Amanullah Omar schiebt einen Einkaufswagen durch den Coop in Nesslau. Er sucht eine bestimmte Sorte Reis, findet sie, legt Pouletschenkel dazu. Noch immer ist die grosse Auswahl an Produkten gewöhnungsbedürftig für den 21-jährigen Afghanen. Im August hat er im Coop Nesslau seine zweijährige Lehre als Detailhandelsassistent begonnen.
Nach der Arbeit erledigt er hier seinen Wocheneinkauf. Dabei hilft ihm Hanlie Abderhalden (53), Verkäuferin im Coop Nesslau. Sie unterstützt Amanullah nicht nur während der Arbeit, sondern auch in der Freizeit und erklärt ihm, wie Dinge funktionieren, die für Schweizer selbstverständlich sind, wie etwa einen Wocheneinkauf zu erledigen.
Vier Tage ohne Wasser
Vor viereinhalb Jahren ist der junge Mann in die Schweiz gekommen. In Afghanistan lebte er in Dschalalabad, der sechstgrössten Stadt im Osten des Landes. Seine Familie war den Taliban gegenüber kritisch eingestellt. «Als mein Bruder, der Polizist war, erschossen wurde, sagten meine Eltern, ich solle das Land verlassen», erzählt Amanullah Omar.
Etwa sechs Monate war er unterwegs, über Pakistan, den Iran, die Türkei, Griechenland und Bulgarien. In Serbien stieg er mit einem afghanischen Freund in ein Auto, das zum Transport auf einem Lastwagen befestigt war. Vier Tage versteckten sie sich darin. Sie hatten nur noch eine eine Packung Kekse, kein Wasser mehr, erinnert er sich.
Wir haben das Kondenswasser von der Scheibe getrunken, das entstand, wenn es nachts abkühlte.»
In der Schweiz lebte er zuerst im Asylzentrum Kreuzlingen und später in verschiedenen Asylunterkünften. Da er damals erst 17 Jahre alt war, durfte er in der Schweiz bleiben. Die Regionale Potenzialabklärungs- und Arbeitsintegrationsstelle der St.Galler Gemeinden (Repas) vermittelte ihm eine Integrationsvorlehre im Coop Nesslau, die ein Jahr dauerte. Dass er jetzt die Ausbildung machen darf, sieht Amanullah Omar als grosse Chance: «Diese Lehrstelle ist meine Zukunft.»
Die eigenen vier Wände
Im Coop arbeitet Amanullah Omar zurzeit in der Früchte- und Gemüseabteilung. Hanlie Abderhalden lobt, wie schnell er Neues lernt: «Er ist sehr intelligent und fragt immer, wo er noch helfen kann.» Amanullah Omar ist auch selbst stolz, wenn er etwas dazugelernt hat. «Mein wichtigstes Ziel ist, diese Lehre gut abzuschliessen», sagt er.
Er ist dankbar, dass Hanlie Abderhalden ihm auch bei den Hausaufgaben der Berufsschule hilft. Im September durfte er seine erste eigene Wohnung beziehen. «Ich bin sehr froh, hier kann ich besser schlafen als in der Asylunterkunft, wo es oft bis 3 Uhr nachts lärmig war.» Hanlie Abderhalden hat ihm auch beim Einrichten seiner Wohnung geholfen. Ihre Freunde spendeten Möbel, die sie nicht mehr brauchten.
Beim Cricket wieder lachen
Hanlie Abderhalden hat sich Amanullah Omar angenommen, weil sie selbst weiss, wie es ist, irgendwo fremd zu sein. Die gelernte Köchin kam 1994 aus Südafrika in die Schweiz. «Ich hatte zwar einen Job, als ich ankam. Aber ich verstand am Anfang auch kein Wort Deutsch», erinnert sie sich. «In der Schweiz ist alles anders für ihn, und er hat keine Familie hier. Ich möchte ihm die Angst nehmen und ihm Halt geben», schildert sie die Motivation für ihre Unterstützung.
Mit viel Geduld erklärt sie ihm alltägliche Aufgaben. «Ich bin Hanlie sehr dankbar. Sie ist fast wie eine Ersatzmutter geworden», sagt Amanullah Omar. Trotzdem vermisst er auch seine Eltern und seine Geschwister in Afghanistan. Und jetzt, da die Taliban die Macht übernommen haben, kommt zum Heimweh auch noch die Sorge um seine Familie.
Ein wenig Ablenkung findet er beim Cricketspielen, dem Nationalsport seiner Heimat. Jeden Sonntag spielt er mit Freunden aus Afghanistan und Pakistan in Goldach. Hier kann er seine Sorgen vergessen und wieder ausgelassen sein. (pd)