Majestätisch stürzt sich der Ragnatscher Fall vor ihnen die Klippe hinunter. Ungeachtet der von ihm ausgehenden Gefahr machen sich die Profis ans Werk.
Karabiner werden befestigt und Seile werden gezurrt. Was anderen vor Angst das Blut in den Adern gefrieren lassen würde, lässt die erprobten Canyoningfachspezialisten der Alpinen Rettung Schweiz (ARS) allem Anschein nach kalt.
Voll Kalkül und Erfahrung machen sie sich ans Werk und bahnen sich den Weg an der senkrechten Felswand nach unten.
Heute gilt es nicht ernst. Der steile Abstieg ist Teil einer jährlich anstehenden dreitägigen Übung, der sich die Spezialisten unterziehen müssen, um weiterhin ihre Funktion ausüben zu dürfen.
Handgriffe und Notfallprozedere werden geübt, um diese im Ernstfall blitzschnell abrufen und auf mögliche Gefahren reagieren zu können.
Sicherheit steht bei den Rettern an erster Stelle
«Ein gewisses Restrisiko bleibt immer. Bei Übungen wie bei Ernstfällen», sagt Niklaus Kretz, der als Fachleiter Canyoning bei der ARS solche Ausbildungswochenenden organisiert und durchführt.
Auch Teil seines Jobs ist es, ebendieses unumgehbare Risiko so klein als möglich zu halten. Kretz ergänzt:
Bei allen Einsätzen, sei es ernst oder nur Training, steht die Sicherheit der Retter an allererster Stelle.
Ansonsten können die Fachspezialisten der ARS ihren Auftrag nicht erfüllen.
Vereinfacht lautet dieser nämlich: verletzte Menschen an schwer erreichbaren Orten, sei es in Schluchten oder Flüssen, zu bergen und deren Evakuierung durch ein Spezialistenteam mit dem Helikopter sicherzustellen.
In Fällen wie am Ragnatscher Bach bedeutet das, den gesamten Bachverlauf abzusuchen, die Person in Not zu finden und sie bis zu einer Lichtung zu transportieren.
Doch von vorn: Der Tag der 14 Canyoningspezialisten beginnt schon etliche Stunden bevor sie um zirka 15 Uhr den 140 Meter hohen Ragnatscher Fall unter die Seile nehmen.
Nach dem Frühstück geht es um 9 Uhr los mit dem Theorieteil. Auf Karten wird das Einsatzgebiet studiert und vom Gruppenleiter eine Herangehensweise vorgegeben.
Anschliessend gehts zur Seilbahnstation der Spinabahn und von dort aus hoch nach Hinderspina.
Unter den 14 Teilnehmenden herrscht eine lockere Stimmung. Es wird gescherzt und auch gelacht. Sie alle könnten verschiedener nicht sein.
Neben den regionalen Spezialisten kommen sie aus der ganzen Schweiz und sprechen teils gar andere Sprachen. Doch eines verbindet sie: die Passion für das Canyoning. Während die Spinabahn sich stetig de Berg hinaufhangelt, sagt Kretz:
Das ist neben exzellenter Fitness auch eines der wichtigsten Auswahlkriterien.
Platz für Angst bleibt keiner übrig – «Wie auch?»
Nötig sind auch Nerven wie das Drahtseil, an dem sich die rudimentäre Gondel gerade befindet.
Angesprochen auf das Thema Angst erwidern die drei Insassen der Kabine nur: «Wieso auch? Das bringt ja nichts.»
Was auf den ersten Moment wie leeres Machogeschwätz klingt, führt einer der Canyoningspezialisten weiter aus.
«Was wir kontrollieren können, haben wir stundenlang trainiert und machen wir so gut wir können. Der Rest unterliegt nicht unserer Kontrolle», sagt der Mann mittleren Alters, der sonst als Bergführer arbeitet.
An den beiden Kurswochenenden haben auch die acht Fachspezialisten aus der Ostschweiz teilgenommen.
Für Ereignisse in Schluchten werden primär sie aufgeboten, bei grösserem Personalaufwand werden weitere Fachspezialisten der Nachbarregionen hinzugezogen.
Für Unfälle in Fliessgewässern besteht in der Ostschweiz seit Anfang 2023 ein gemeinsames Einsatzdispositiv von 31 Fliesswasserrettungs-Fachkräften, bestehend aus Mitgliedern der Kantonspolizei St. Gallen, der Schweizerischen Lebensrettungs-Gesellschaft (SLRG) Mittelrheintal und den Fachspezialisten Canyoning der ARS.
Trockenübungen vor dem Einstieg
Oben angekommen, steht als Erstes eine Repetition am Seil auf dem Plan. Es gilt, den passenden Knoten für das vorgegebene Szenario so schnell und genau wie möglich knüpfen zu können.
Kretz betont die Wichtigkeit solch scheinbar einfacher Übungen wie folgt:
In Notfallsituationen müssen dergleichen Grundlagen sofort abrufbar und wie im Schlaf ausgeführt werden können.
Erst danach bahnen sich die Retter gruppenweise den Weg bis hin zur Schlucht. Jeder einzelne voll bepackt mit den wichtigsten Utensilien und mehreren Hundert Metern speziellem Canyoningseil.
Erst dann folgt der eigentliche Übungsstart.
Der erste Canyoningspezialist befestigt ein Seil an einer vorgebohrten Sicherung und lässt sich langsam den kleinen Wasserfall hinunter.
Unten angekommen, gibt er seinem Kameraden ein Handzeichen. Dieser folgt und löst, einmal unten angekommen, den wartenden Retter ab.
Dann macht sich der Erste auch schon weiter auf zur nächsten Abseilstelle, um dort den Abstieg für sein Team vorzubereiten.
So bahnen sich die Retter speditiv den Weg den Bach hinunter. Kretz erklärt:
Meist wissen wir nicht, wo die Personen genau feststecken.
Und so müssen Teams an verschiedenen Stellen in den Bach einsteigen und einen Abschnitt absuchen, bis die zu rettende Person gefunden ist.
400 Meter Tiefe und 15 Abseilstellen
Die letzten Stimmen werden vom Tosen des Wassers verschluckt, und so ist die erste Gruppe aus dem Sichtfeld verschwunden.
Jetzt sind sie auf sich allein gestellt. Zumindest fast. Per Funk sind die Gruppen untereinander und mit der Rega verbunden.
In der Schlucht kommuniziert wird hauptsächlich mit vereinheitlichten Handzeichen, die alle Retter kennen.
Insgesamt gilt es 15 Abseilstellen über 400 Höhenmeter bis zur Talstation der Seilbahn Palfries hinter sich zu bringen.
Auf dem Weg nach unten warten noch zahlreiche Aufgaben auf die Einsatzteams. Hauptfokus am Ragnatscher Bach ist die Rettung einer Person, die bloss leicht verletzt und noch teilweise mobil ist.
Ein häufig auftretender Fall, bei dem sich eine Person beispielsweise beim Canyoning den Fuss gebrochen hat und den restlichen Abstieg nicht mehr selbst bestreiten kann.
Aber auch der Eigenschutz wird geübt. Im Falle, dass ein Retter selbst inmitten eines Abstiegs stecken bleibt und vom Seil freigeschnitten werden muss.
Und dann kommt das spektakuläre Finale: das grösste Stück des Ragnatscher Falls. 140 Meter geht es für die Canyoningspezialisten senkrecht in die Tiefe.
Und doch ist von Furcht bei den Veteranen keine Spur. Sie rufen ihre gelernten und erprobten Fähigkeiten ab und bahnen sich im Team den Weg bis zuunterst an die Waldlichtung.
In den folgenden Tagen warten noch zwei weitere Herausforderungen auf die Canyoningfachspezialisten. Tags darauf gehts nämlich schon weiter mit der Rettung einer nicht transportfähigen Person aus dem Castieler Tobel im Schanfigg, den krönenden Abschluss macht eine Fliesswasserrettung im Linthkanal.
«Den einfachen Teil haben die Teilnehmenden damit also hinter sich», sagt Kretz.