Viel Spass wünscht Nik Tarnutzer seinen Drittklässlern, die ihre Sachen fürs Englisch im Schulzimmer holen. Englisch könne er nicht unterrichten, erklärt der langjährige Lehrer ohne Bedauern. Dass ihm ein Schulkind mit «und Ihnen kein Spass» antwortet, bringt beide zum Lachen.
Sie wissen, wie dieser Spruch gemeint ist – nicht frech, sondern voller Respekt und Wertschätzung. Jetzt, Ende Schuljahr, kenne er die Kinder, sagt Nik Tarnutzer. Im Herbst sei dies jeweils anders, da brauche es auf beiden Seiten eine gewisse Zeit, bis das Vertrauen aufgebaut ist und alle wissen, wie weit sie gehen können. Tarnutzer sagt:
Die Kinder sind noch etwas zurückhaltend, aber bald schon herrscht eine gute Atmosphäre im Schulzimmer.Noch keine konkreten Pläne Die Kinder sind die letzten Drittklässler, die von Nik Tarnutzer unterrichtet werden, bevor er pensioniert wird. Wehmut kommt beim Lehrer aber nicht auf. Er sagt:
Ich habe den Beruf mit Freude ausgeübt und die Kinder gerne etwas gelehrt.Konkrete Pläne für seine Pensionszeit hat er noch keine. Er erhoffe sich mehr Flexibilität, sodass er vermehrt Zeit mit seinen Enkelkindern verbringen und das schöne Wetter ausnutzen kann, zum Beispiel für die Arbeit mit den Bienen, für die Jagd oder um einmal länger in seinem Maiensäss im Bündnerland zu sein. Bewerbungsgespräch im «Rössli» Mitnehmen wird er die Erinnerungen an sein Lehrerleben, das in seinen Anfängen ein ganz anderes war als jetzt. Vorgestellt hat er sich bei zwei Schulräten, die er im «Rössli» getroffen hat. Beim Mittagessen hätten sie miteinander gesprochen, dann hätten sich die Schulräte ins Jägerstübli zurückgezogen und beraten, erzählt Nik Tarnutzer. Sie haben sich für den jungen Lehrer entschieden, direkt aus dem Lehrerseminar Rorschach. Religion spielte eine Rolle Er habe sich im Obertoggenburg beworben, weil es dort bergig war und er Ski fahren konnte, sagt Nik Tarnutzer. In dieser Zeit seien freie Lehrerstellen rar gewesen – und auch die Religion habe oftmals eine Rolle gespielt. Zwar waren damals die Schülerinnen und Schüler nicht mehr nach Konfession getrennt, die Religion hatte aber einen anderen Stellenwert im Schulzimmer. Auf Wunsch des Schulrats hing ein Kreuz über der Wandtafel und das Morgengebet war Pflicht. Ausserdem gingen die Schulkinder und ihre Lehrer jeweils Anfang des Schuljahrs in die Kirche. Nik Tarnutzer sagt:
Das habe ich so nicht gekannt.Schnee im Frühling Was es hiess, in Unterwasser Lehrer zu sein, musste er bereits in den ersten Tagen erfahren. Damals begann das Schuljahr noch im Frühling und der junge Lehrer bereitete das Thema «Wiesenblumen» vor. «Ich staunte nicht schlecht, als es dann Schnee hatte», erinnert er sich. Das war aber nicht das einzige Mal, dass er sein Thema kurzfristig umstellen musste: Das Thema «Katze» fiel ebenfalls aus, weil gerade dann die Katze einer Schülerin überfahren wurde und somit das «Anschauungsobjekt» auch nicht mehr zur Verfügung stand. Von Unterwasser nach Alt St. Johann Mitte der 2000er-Jahre gab es die grösste Umstellung in Nik Tarnutzers Berufsleben. Der Schulstandort Unterwasser wurde geschlossen, er zügelte ins Schulhaus nach Alt St. Johann, wo er die dritte Klasse übernahm. Langeweile habe er in all den Jahren nicht gehabt, auch wenn er immer dasselbe unterrichtete. Seine Erklärung:
Es waren ja immer andere Kinder.Dass er keine andere Schule kennengelernt hat, bedauert er nicht. Es habe ihm ja gefallen. Und ein Wechsel wäre nur in Frage gekommen, wenn es noch besser gewesen wäre. Den Kindern fehlte der Kontakt untereinander Als Lehrperson war Nik Tarnutzer aber nicht nur im Schulzimmer gefragt. Während der ersten Welle der Coronapandemie im Frühjahr 2020 war der persönliche Kontakt untereinander abgebrochen, Homeschooling war angesagt. «Die Eltern haben die Aufgaben für die Kinder abgeholt und mir im Gegenzug die Arbeiten abgegeben», erzählt Nik Tarnutzer. Dass sich dies allenfalls negativ auf das Wissen der Kinder ausgewirkt hat, kann er nicht bestätigen. Aber:
Der Kontakt unter den Kindern fehlte, das prägte sie alle viel mehr.Inzwischen habe sich der Alltag normalisiert, immer wieder gebe es krankheitsbedingte Ausfälle – wie vorher auch. Kinder auch einmal «machen lassen» Nik Tarnutzer hat als Lehrer Verständnis dafür, dass nicht alle Kinder gerne zur Schule gehen. Und er findet, dass sie das auch sagen dürfen. Gerade in einem ländlichen Gebiet wie im Obertoggenburg sollen die Kinder und ihre Familien spüren, dass nicht jedes Kind eine akademische Laufbahn einschlagen müsse. «Man muss sie auch machen lassen», lautet Nik Tarnutzers Credo. «Sie setzen sich ein und bemühen sich, dann machen sie ihren Weg schon.» Ein Mann in einem Team von Lehrerinnen Mit dem Ende des Schuljahrs geht in Alt St. Johann eine Ära zu Ende. Nicht nur, dass mit Nik Tarnutzer ein Lehrer in Pension geht, der Generationen das Einmaleins beigebracht hat. Mit ihm verlässt der letzte Lehrer die Schulgemeinde. Er sagt:
Ja, ich war der letzte Lehrer in einem Team von Lehrerinnen – und ich werde durch eine Frau ersetzt.