«Willkommen bei mir zu Hause», sagt Caroline Bienek mit einem schüchternen, aber breiten Lächeln. Es ist ein einfacher, alltäglicher Satz, der vielen leicht über die Lippen geht. Für Caroline Bienek aber bedeutet er viel mehr.
Mit steifem, ruckartigem Schritt geht die 25-Jährige in die Küche und bietet Getränke an. Als sie sich schliesslich an den Küchentisch setzt, atmet sie hörbar erleichtert aus.
Mit diesem Wunsch ging es ihr wohl kaum anders als anderen 25-Jährigen. Doch Menschen mit Behinderung haben es in der Schweiz schwer, selbstbestimmt zu entscheiden, wo und wie sie leben und wohnen wollen. Zu diesem Schluss kam im März dieses Jahres der UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Er hatte die Schweiz erstmals zur Umsetzung der 2014 unterzeichneten UNO-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) geprüft.
Ein Kritikpunkt lautete, dass man sich in der Schweiz noch zu stark auf institutionelle Wohnformen fokussiere. Sprich: Heute können Menschen mit Behinderung meist nur entscheiden, ob sie entweder bei den Eltern oder in Pflege- oder Wohnheimen wohnen möch-ten. Unterstützung, um ein selbstständiges Leben in einer eigenen Wohnung zu ermöglichen, gibt es nicht.
Die Vorstellung, entweder weiterhin bei der Mutter oder aber in einem Heim zu wohnen, gefiel Bienek gar nicht. Und so wandte sie sich 2021 mit ihrem Wunsch an Pro Infirmis St. Gallen-Appenzell, wo sie offene Türen einrannte. «Wir haben uns zum Ziel gesetzt, eine Wahlmöglichkeit im Bereich Wohnen zu schaffen und sogenannte ‹Probewohnungen› zur Verfügung zu stellen», sagt Nadja Stieger, Sozialarbeiterin bei Pro Infirmis St. Gallen-Appenzell.
Doch für Menschen mit Behinderung kann bereits das Finden einer Wohnung, die auf ihre Bedürfnisse angepasst ist, schwierig sein. Caroline Bienek brauchte etwa eine barrierefreie Wohnung, für den Fall, dass sie bald auf den Rollstuhl angewiesen wäre. Weiter sollte die neue Bleibe in der Nähe ihres sozialen Umfelds sein – immerhin übernehmen ihre Eltern einen wesentlichen Teil der Unterstützungsarbeit im Alltag.
Seltene Erbkrankheit diagnostiziert
Die Grabserin hat schon mit 18 Jahren gemerkt, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmte, war aber jahrelang auf der Suche nach einer Erklärung. Schwindelanfälle, eine allgemein schwache Muskulatur und Knieschmerzen sorgten dafür, dass sie zunächst die Lehre in der Hotellerie und anschliessend auch in der Hauswirtschaft abbrechen musste. 2021 erhielt Bienek dann endlich ihre Diagnose. Sie hat HSP, hereditäre spastische Paraparese. Die seltene Erbkrankheit kann neben Krämpfen und übertriebenen Reflexen auch chronische Müdigkeit verursachen.Von der Hotellerie zur IV
Neben der Erleichterung darüber, endlich zu wissen, was mit dem eigenen Körper los ist, stellten sich bei Bienek aber auch Ängste ein. Denn:Meine Krankheit ist nicht heilbar und ich werde früher oder später im Rollstuhl sitzen.Wann es so weit sein wird, weiss sie nicht. Vielleicht in zehn Jahren, vielleicht aber auch schon im nächsten Jahr. Nur tägliche Physio-therapie kann das Ganze hinauszögern. Bienek klingt beim Erzählen gefasst. Dennoch war es für sie schwer zu akzeptieren, dass ihr Leben nicht so aussehen wird, wie sie sich das als Jugendliche einst ausgemalt hatte. «Ich bin ein offener Mensch, liebe es, die Welt zu entdecken, Sprachen zu lernen, neue Leute kennen zu lernen», sagt sie. Doch der Traum, eines Tages in einem Hotel im Ausland zu arbeiten, ist mit der Krankheit in ungreifbare Ferne gerückt. Heute ist Bienek IV-Bezügerin.
UNO-Konvention kritisiert Schweiz
Bereits im eigenen Haushalt sind bestimmte Aufgaben nicht möglich. Den Boden feucht aufzunehmen, beispielsweise. «Mit dieser Hin- und Her-Bewegung kommt mein Kopf nicht klar und blockiert meine Beine. Nach kurzer Zeit falle ich hin», sagt Bienek. Bis vor einem Jahr war sie deshalb nicht sicher, ob sie jemals alleine wohnen könnte.Dabei habe ich immer von meinen eigenen vier Wänden geträumt.
Probewohnen als Untermieterin
Das Projekt Probewohnungen, das finanziell durch den Kanton und Private unterstützt wird, soll Menschen mit Behinderung die Möglichkeit geben, herauszufinden, ob das selbstständige Wohnen die richtige Wohnform für sie ist und welche Unterstützung dafür benötigt würde. Das funktioniert wie folgt: Pro Infirmis sucht zunächst gemeinsam mit der betroffenen Person nach einer Wohnung, die ihren Bedürfnissen gerecht wird. Danach unterschreibt der Verein den Mietvertrag, stattet die Wohnung mit Möbeln aus und setzt einen Untermietvertrag mit den Probewohnenden auf. Die Kündigungsfrist des Untermietvertrags ist dabei möglichst kurz. «Auf diese Weise übernimmt Pro Infirmis das Risiko, falls eine Person plötzlich merken würde, dass sie in der eigenen Wohnung doch nicht klarkommt», sagt Stieger. Ausserdem unterstützt Pro Infirmis bei der Organisation von Pflege- und Unterstützungshilfen, welche eine Person im Alltag in Anspruch nimmt. Während sechs bis zwölf Monaten kann dann «probegewohnt» werden. Klappt das gut, übernimmt die Person die Wohnung als Hauptmieterin.Ein offener Raum statt Trennwände
Bienek hatte Glück und wurde in Buchs fündig. Das Büro Märk Architektur AG hatte soeben ein Mehrfamilienhaus mit barrierefreien Wohnungen gebaut. Architekt Sven Märk möchte betonen, dass nicht nur soziale Überlegungen ihn dazu bewogen haben, so zu bauen:Die Nachfrage nach solchen Wohnungen steigt stetig.Am Ende sei Barrierefreiheit nicht nur für ältere und behinderte Menschen praktisch, sondern eigentlich für alle, findet Märk. Deshalb hat er beim Bau auf viele Details geachtet, die Bienek nun entgegenkommen: Von tiefen Lichtschaltern und Briefkästen, die auch im Rollstuhl erreichbar sind, über breite Korridore und Türen bis hin zu schwellenlosen Balkonen und Nasszellen. In Bieneks Wohnung gibt es weder im Bad noch bei der Balkontür Schwellen, die im Rollstuhl nicht problemlos befahrbar wären: [gallery link="file" columns="2" ids="31444,31445"] Da Caroline Bienek noch dazu Erstmieterin war, konnte sie vor dem Einzug im Frühling entscheiden, ob sie Trennwände in der Wohnung haben wollte oder lieber einen einzigen offenen Raum. Bienek entschied sich für letzteres. «So komme ich mit dem Rollstuhl eines Tages besser durch die Wohnung», sagt sie. Das klingt so, als würde sie länger hierbleiben. «Ja», sagt Bienek und lacht. Ab Januar sei sie Hauptmieterin. Der Vertrag ist schon unterschrieben.