Ein Tag im Leben von Beat Tinner – «Es ist ein Privileg, Regierungsrat zu sein» | W&O

01.04.2022

Ein Tag im Leben von Beat Tinner – «Es ist ein Privileg, Regierungsrat zu sein»

Der W&O heftete sich an die Fersen von Beat Tinner. Dabei klärt viele Fragen: Wie sieht seine Agenda aus? Schreibt er seine Reden selbst? Wie fühlt er sich im zweiten Amtsjahr? Was gibt Anlass zu mehrfacher Freude?

Von heini.schwendener
aktualisiert am 28.02.2023
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Blaue Jacke, beige Chinohose, graue Sneakers, keine Krawatte – an diesem Donnerstagmorgen hat Regierungsrat Beat Tinner «Auslauf». Sein Büro in St. Gallen wird er nur kurz sehen. In Bad Ragaz, wo sich die Fachleute zum St. Galler Tag des Waldes treffen, herrscht Freude darüber, dass der «oberste Waldchef» den Anlass mit seiner Anwesenheit beehrt. Termine wie diesen, aber auch weit weniger wichtige, könnte ein Regierungsrat pro Woche im Dutzend besuchen. Darum werden die Einladungen mit Bedacht ausgewählt. Chancenlos sind jene ohne Bezug zum Volkswirtschaftsdepartement. Bei allgemeinen gesellschaftlichen Anlässen bespricht das Regierungsratsgremium, wer daran teilnehmen könnte.
 Im Giessenpark in Bad Ragaz am St. Galler Tag des Waldes: Referent Beat Tinner gibt seiner Freude darüber Ausdruck, dass das Volk die Waldpolitik des Kantons schätzt.
Im Giessenpark in Bad Ragaz am St. Galler Tag des Waldes: Referent Beat Tinner gibt seiner Freude darüber Ausdruck, dass das Volk die Waldpolitik des Kantons schätzt.
Ein Blick in Beat Tinners Wochenagenda verrät, vor welcher Herausforderung seine Assistentin Gabriela Peyrot steht – und dass es diese Woche für keinen freien Abend gereicht hat. Der Terminplan mit allen Transfers ist durchgetaktet: Wann findet wo welche Sitzung statt (Thema, anwesende Personen)? Wann fährt der Zug (auf welchem Gleis)? Wer (Name und Funktion) erscheint wann? Wo und wann wartet welcher Chauffeur (mit Handynummer)? Gar nichts wird dem Zufall überlassen, weil sonst die proppenvolle Agenda in kürzester Zeit implodieren könnte.

Die Reden schreiben die Amtsleitenden

Zurück nach Bad Ragaz, wo nun auch bei Beat Tinner Freude herrscht. Eine Umfrage habe nämlich ergeben, dass die St. Galler Waldpolitik im Grundsatz den Bedürfnissen der Bevölkerung entspreche, sagt er mit Stolz bei der Begrüssungsansprache. Die meisten seiner Reden werden von den zuständigen Amtsleitenden verfasst und vom Generalsekretär oder dessen Stv. überarbeitet. Beat Tinner erklärt:
Das hat auch mit der Qualitätssicherung zu tun.
Er gibt meist die Schwerpunkte der Reden vor, denn er betont:
Reden sind wichtig, sie bieten Gelegenheit, damit eine Haltung zum Ausdruck zu bringen.
Beim Apéro und Mittagessen wird der Regierungsrat umgarnt. Einige der rund 50 Teilnehmenden – Tinner kann viele mit Namen ansprechen, weil er stets vorgängig die Gästeliste studiert – suchen den Small Talk. Einerseits wohl, um sich selbst in Erinnerung zu rufen, andererseits sprechen sie politische oder fachliche Themen an. So tauscht sich Tinner etwa mit dem zuständigen Wildhüter über das Social-Media-Theater um den angeblichen Wolfsriss im Sarganserland aus.
 Mit Chinos und Sneakers unterwegs: Ein Regierungsrat trägt nicht ausschliesslich Anzug und Krawatte, sondern er passt sein Outfit dem Anlass an. Darum muss er sich auch gelegentlich während des Tages umziehen.
Mit Chinos und Sneakers unterwegs: Ein Regierungsrat trägt nicht ausschliesslich Anzug und Krawatte, sondern er passt sein Outfit dem Anlass an. Darum muss er sich auch gelegentlich während des Tages umziehen.
Nach dem Mittagessen mahnt Tinners Agenda zur Abfahrt nach St. Gallen. Nicht mit dem Zug und auch nicht mit einem Chauffeur, den er dafür bestellen könnte, sondern im Mobility-Renault, den sein Generalsekretär Thomas Unseld steuert. Die Fahrzeit nutzt der Regierungsrat als Zeitfenster für Medienanfragen.

Nächstes Treffen: Im Büro an der Davidstrasse

Die anschliessende Sitzung in St. Gallen ist nicht für Journalistenohren bestimmt, der W&O bleibt draussen. So findet das nächste Treffen am späten Nachmittag in Tinners Büro im Volkswirtschaftsdepartement an der Davidstrasse 35 in St. Gallen statt. Tinner kommt aus der Sitzung, noch immer in seinen Chinos, Sneakers und ohne Krawatte. Ein Jackett hat aber die Jacke abgelöst. Mit beneidenswerter Effizienz sichtet und erledigt er die Pendenzen auf seinem Schreibtisch. Fast schon feierlich öffnet er sein Tintenfass und unterzeichnet Dokumente mit einem Federhalter.

Sehr viel unterwegs, aber danach immer wieder gerne im Büro

Beat Tinner hat die Büromöblierung seiner vier Amtsvorgänger übernommen. Das grosszügige Büro wirkt nüchtern-sachlich. Als müsste er sich dafür entschuldigen sagt der Regierungsrat:
Ich bin kein Fan von allzu persönlichen Sachen im Büro.
 Nur noch wenige Papierunterlagen gibt es in Tinners Büro, fast alles ist digitalisiert.
Nur noch wenige Papierunterlagen gibt es in Tinners Büro, fast alles ist digitalisiert.
Der wöchentlich frische Blumenstrauss erzeugt eine angenehme Atmosphäre. Selbst ausgewählt hat Tinner aus dem Fundus der Kunstwerke des Kantons das riesige Walensee-Wandbild. Wirklich persönlich sind ein kleines Bild des Tinner-Wappens, eine Topfpflanze aus Wartauer Zeiten und einige Steine aus dem Bergwerk Gonzen, deren Knappenvereinigung er einst präsidierte. Diese Woche ist Beat Tinner selten im Büro, «wohl nur etwa vier Stunden». Sein Büro ist trotzdem ein Ort, wo er jeweils gerne wieder ankommt – etwa nach Aussenterminen wie heute in Bad Ragaz. Die Türen zwischen den Büros des Amtsvorstehers, seiner Assistentin und seines Generalsekretärs stehen immer offen, ausser bei Sitzungen. Tinner schätzt die Zeit im Büro. Er möchte nämlich auch für die rund 700 Mitarbeitenden des Departements gelegentlich sichtbar und da sein. Regelmässige Kontakte hat er selbstredend mit seinen fünf Amtsleitenden. Alle haben mit dem Regierungsrat und seinem Generalsekretär montags ab 7.45 Uhr einen Sitzungstermin. An diesen Tagen steigt der Wartauer bereits um 5.30 Uhr in Sargans in den Zug, an den übrigen Tagen meist um 6.30 Uhr.

Tag beginnt mit der W&O-Lektüre

Während der Zugfahrt liest der 50-Jährige den W&O, das Tagblatt, den Sarganserländer und die NZZ, «das ist ein guter Einstieg in den Tag». Er ist froh, wenn er während der Fahrt nicht gross gestört wird, hat aber trotzdem ein Ohr für Leute, die ihn spontan ansprechen. Tinner schätzt Kontakte zu den unterschiedlichsten Menschen, «so bewegt man sich nicht nur in der Blase des Regierungsviertels». Gerne ist er darum auch zu früh an einem Anlass, was in seiner Agenda berücksichtigt wird. So hat er es nicht nur heute Morgen in Bad Ragaz gehalten, sondern auch mit der Delegiertenversammlung (DV) der FDP, die heute Abend im Kantonsratssaal stattfindet.
 Begegnung mit Parteikolleginnen und -kollegen bei der FDP-Delegiertenversammlung am Abend im Kantonsratssaal: Beat Tinner war selber 20 Jahre lang Mitglied des St. Galler Parlaments, bevor er vor zwei Jahren in die St. Galler Regierung gewählt wurde.
Begegnung mit Parteikolleginnen und -kollegen bei der FDP-Delegiertenversammlung am Abend im Kantonsratssaal: Beat Tinner war selber 20 Jahre lang Mitglied des St. Galler Parlaments, bevor er vor zwei Jahren in die St. Galler Regierung gewählt wurde.
Beim Fussmarsch dorthin durch die Stadt bleibt der Regierungsrat unbehelligt. «Manchmal sagt jemand auf der Strasse ‹Grüezi Herr Regierungsrat› zu mir», erzählt Tinner. Unliebsame Begegnungen blieben ihm erspart.

Sogleich in Beschlag genommen

Wieder herrscht Freude – diesmal bei der FDP-Familie. Die Anwesenheit der Regierungsräte Beat Tinner und Marc Mächler wird geschätzt, erst recht, weil an der DV «nur» die Parolen zu den Vorlagen vom 15. Mai gefasst werden, zu denen die Meinungen ohnehin schon gemacht sind. Tinner wird sogleich in Beschlag genommen. Kantonsrat Thomas Scheitlin nimmt seinen Parteikollegen zur Seite, er hat Wichtiges mit ihm zu besprechen. Während der DV sitzt Tinner auf einem Kantonsratssessel, wie in den Jahren 2000 bis 2020, bevor der Kantonsparlamentarier aus Azmoos in die Regierung gewählt wurde. Während der DV hört er den Referierenden zu, checkt Mails auf dem Tablet und unterhält sich flüsternd mit Sitznachbar Marc Mächler. Multitasking erhöht die Effizienz. Ist Tinner im Regierungsamt angekommen? Diese Frage ist offenbar falsch. «In einer Regierung gibt es keine zwei Jahre, um sich im Amt einzuarbeiten.» Tinners gut gefüllter politischer Rucksack hat ihm vieles erleichtert. Zudem hat ihm das Departement Zusammenfassungen aller wichtigen Dossiers vorgelegt. Er ist also mit dem Stellenantritt auch bereits im Amt angekommen.

«Das Handwerk der Politik ist überall desselbe»

Nach seinen ersten beiden Amtsjahren hält der Wartauer fest: «Ich bin glücklich und zufrieden. Die Arbeit macht mir Freude.» Dieses Fazit zieht er trotz voller Agenda mit unzähligen Amtsleiter- und Regierungssitzungen, Fachdirektorenkonferenzen, Terminen im Departement und im Regierungsviertel, Anlässen auswärts, Transfers, Empfängen, Referaten, Abend- und Wochenendveranstaltungen usw. Selbstverständlich müssen vorgängig all dieser Termine seitenweise Dossiers studiert werden. «Beat Tinner packt an und setzt um» – seinem Wahlkampfmotto vom Frühjahr 2020 fühlt er sich nun, da gewählt, mehr denn je verpflichtet. Er sagt: «Es ist ein Privileg, Regierungsrat im fünftgrössten Kanton der Schweiz zu sein.» Das Handwerk der Politik sei überall dasselbe, in der Partei, als Gemeindepräsident, als Kantonsrat und als Regierungsrat:
Man muss andere überzeugen können.
Im Gemeinderat als Primus inter Pares, im Regierungsrat als einer von sieben. Wichtig sei, die Bodenhaftung nie zu verlieren. Die DV der FDP in St. Gallen ist fertig. Um 23 Uhr kommt Beat Tinner zu Hause in Azmoos an. Nach einem langen Arbeitstag, der ihm erneut kaum Freizeit und damit auch keinen Raum für seine Hobbys gelassen hat. Selbst für die Krimilektüre ist es nun zu spät. Und trotzdem schafft es Regierungsrat Tinner, gelegentlich etwas Freizeit zu ergattern. Diese nutzt er auch, um alle zwei bis drei Tage bei seinen Eltern vorbeizuschauen und sie im Alltag zu unterstützen, beispielsweise indem er sie bekocht. An solchen Tagen kommt jeweils Freude bei seinem Vater und seiner Mutter auf.