Ernst Hüberli dirigiert seit 50 Jahren – ein Gespräch über Musik, Vereinssterben und Corona | W&O

24.02.2023

Ernst Hüberli dirigiert seit 50 Jahren – ein Gespräch über Musik, Vereinssterben und Corona

Freude, Herzblut und eine gewisse autoritäre Ader: Der Wattwiler Ernst Hüberli, musikalischer Leiter des Toggenburger Orchesters, spricht über Musik, den schweren Stand von Vereinen, und wie die Pandemie die Menschen verändert hat.

Von Sascha Erni
aktualisiert am 28.02.2023
Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 9 Franken im Monat oder 96 Franken im Jahr.

Bei Ernst Hüberli spürt man sofort: Er ist ein Mensch mit viel Enthusiasmus. Seit dessen Gründung steht er dem Toggenburger Orchester als musikalischer Leiter vor, schon zuvor war er Dirigent – Hüberli steht seit einem halben Jahrhundert am Dirigentenpult.

Der letzte Diktator

Er kann es selbst kaum fassen. «Seit 50 Jahren kommen ich und um die 50 Leute miteinander klar», sagt er. Dann lacht er.
Der Dirigent ist der letzte Diktator in unserer Demokratie.
Es sei eindrücklich, wenn die heute 40 Mitglieder des Orchesters seinem Taktstock gehorchen und innerhalb von Sekundenbruchteilen reagieren. Nun ehrt der Verein seinen «Diktator» mit fünf Auftritten. Am 25. und 26. März ist die Bevölkerung eingeladen, Orchesterproben in der Textilfachschule Wattwil beizuwohnen. Und im September geht es auf den Chäserrugg. «Ernst Hüberli auf dem Gipfel!», sagt dieser, und lacht erneut.

Eine sehr musikalische Familie

Ja, Lachen, das hört man oft von Ernst Hüberli. Die Freude stehe auch tatsächlich im Zentrum seiner musikalischen Arbeit, erklärt er.
Freude und Herzblut, schaffen und sich ärgern, das gehört dazu.
Ebenso wichtig sei es, diese Freude an der Musik dem Publikum näherzubringen. Wenn Hüberli etwas gelernt hat in seiner langen Zeit als Dirigent: Ohne ein zufriedenes Publikum sinkt auch die Motivation im Orchester. Freude an der Musik spielte in der Familie immer eine grosse Rolle. Ernst Hüberlis Vater war dreissig Jahre lang Dirigent in Wildhaus, wo er auch als Gemeindepräsident amtete.

Musikalische Anfänge in der Kanti

Die «Hüberli-Kapelle», ein Volksmusikensemble, lässt sich bis ins 19. Jahrhundert verorten. Seine eigenen musikalischen Anfänge finden sich an der Kantonsschule Wattwil, wo er Blasinstrumente spielte und zusammen mit anderen Musikerinnen und Musikern das Junge Kammerorchester Wattwil gründete. Seine Karriere als Dirigent begann. 1980 fusionierte dann das Junge Kammerorchester mit dem Orchesterverein Wattwil, das Toggenburger Orchester war geboren. Ein Laien-Orchester, wie Hüberli festhält. Er selbst bezeichnet sich ebenfalls als Amateur. Zwar besuchte er das Konservatorium in Luzern und wirkte als Dirigent fürs Regimentsspiel Winterthur, eine professionelle Karriere wäre also in Griffnähe gewesen. Stattdessen arbeitete er bis zu seiner Pensionierung als Primarlehrer in Wattwil.

Sohn spielt Klavier und Cembalo

«Ich finde es gut, Musik als Hobby machen zu dürfen, statt als Beruf machen zu müssen», sagt Ernst Hüberli. Ein Ansatz, der sich auch in der eigenen Familie findet. Sein Sohn ist Anwalt, spielt aber Klavier und Cembalo und hilft manchmal im Toggenburger Orchester aus. Und seine Gattin Erika hat Ernst Hüberli die ganze Zeit musikalisch begleitet, auch im Orchester. Ohne ihre Unterstützung hätte er auch gar nicht so lange und intensiv an der Musik arbeiten können, ist er sich sicher. Denn der zeitliche Aufwand sei nicht zu vernachlässigen. Neben den wöchentlichen Proben sollte man ja auch noch für sich am Instrument üben.

Coronapandemie verschärfte Situation

Das mache die Suche nach Neumitgliedern schwierig, erklärt Hüberli. Die Pandemie habe die Situation verschärft.
Die Leute fragen sich seither öfters, ob sie sich wirklich Dritten gegenüber verpflichten mögen.
Der Wattwiler macht sich in dieser Hinsicht Sorgen um die Existenz aller Vereine, nicht nur die des Toggenburger Orchesters. «Irgendetwas ist in den Köpfen der Menschen geschehen während Corona», meint er. Für einmal lacht er nicht.
Es zählt Ich, Ich, Ich, nicht das Miteinander.
Ein gewisser Individualismus wäre schon zuvor aufgrund des Zeitgeists vermehrt vorgekommen. «Aber in der Pandemie hat es sich verhärtet.»

Ungewöhnliche Spielorte für ein breiteres Publikum

Auf die Konzerte des Toggenburger Orchesters angesprochen, hellt sich die Stimmung des Dirigenten wieder auf. Das Orchester ist bekannt für ungewöhnliche Auftrittsorte. So spielte es auf der Iburg in Wattwil oder im Hallenbad. Auch ein «Tunnelkonzert» fand statt, sowie eine Inszenierung auf dem Klangweg. Auch gibt es immer wieder Kollaborationen, etwa mit Jazz- oder Rockbands. Im September, auf dem Chäserrugg, wird der Volksmusiker Carlo Brunner zum Orchester stossen.

Immer ohne Subventionen

Diese ungewöhnlichen Ansätze seien nicht nur aus Spass entstanden, sondern sollen auch helfen, neue Publikumssegmente anzusprechen, erklärt Ernst Hüberli. Sein Herz gehöre zwar der klassischen Musik. Aber es spreche nichts dagegen, den Horizont weiter zu fassen und damit mehr Menschen anzusprechen, auch an anderen Orten als dem klassischen Konzertsaal.
Wir mussten immer ohne Subventionen durchkommen. Also stellt sich auch immer die Frage, was will das Publikum wo hören?
Eine ähnliche Flexibilität verfolgt das Toggenburger Orchester auch bei der Suche nach Nachwuchs. Die Teilnahme sei durchaus projektbezogen möglich, ganz ohne Verpflichtung, hält Ernst Hüberli fest. Dann schwingt er sich aufs Fahrrad. Ein Hobby? Er winkt ab. «Mein Hobby sind meine Enkelkinder», sagt er, und lacht.