Neben seiner Arbeit beim treff.LGBT+ und dem Verein sozialwerk.LGBT+ in Chur arbeitet er auch als Jugendarbeiter für eine Bündner Gemeinde. Als ausgebildeter Sozialarbeiter begleitet er Menschen bei Themen wie Coming Out, Liebe und mehr.
Zusammen mit Gleichgesinnten und Politisierenden aus der Region Werdenberg möchte Holger Niggemann in Buchs eine Struktur und eine offizielle Anlaufstelle für queere Menschen schaffen. Mit einem politischen Vorstoss hat man sich jüngst an die St. Galler Kantonsregierung gewandt. Sein Wunsch an die Politik ist, dass sie mithilft, die Gesellschaft zu sensibilisieren und in Buchs eine Struktur bzw. offizielle Anlaufstelle für den Südteil des Kantons schafft.
Wann wurden Sie das letzte Mal angefeindet?
Holger Niggemann: Das war kürzlich in Buchs in der Bahnhofstrasse. Ich habe eine Regenbogen-Mütze getragen und wurde von einer Gruppe von jungen Männern mit «Hey, Schwuchtel» gerufen.
Was löst das in Ihnen aus?
Das ist eine Anfeindung, eine sexuelle Belästigung, ein Übergriff. Nur weil ich etwas Buntes an mir trage, kann man mich persönlich und in meiner sexuellen Orientierung nicht einfach angreifen.
Wie reagiert man in so einem Fall?
Das ist sehr schwierig. Manchmal ist man so betreten, dass man gar nicht reagieren kann. Es gibt aber auch Situationen, in denen man die Leute direkt ansprechen kann. Sie fragen, ob sie das wiederholen möchten, ob sie sich entschuldigen möchten oder man besser die Polizei rufen soll. Am besten wäre es, man könnte die Situation offen miteinander diskutieren und in Frieden auseinander gehen.
Kommt es oft vor, dass Sie angefeindet werden?
Ja, das passiert regelmässig. Kurz vor dem eingangs geschilderten Fall gab es einen ähnlichen Vorfall auf dem Parkplatz eines Geschäftes in Buchs. Da war ich aber in Eile und habe die Anfeindung deshalb ignoriert.
Ist das auch eine passende Art, darauf zu reagieren?
Die richtige Taktik wäre, die Leute zu konfrontieren und mit ihnen das Gespräch zu suchen. Die Menschen müssen wissen, dass Anfeindungen gegenüber queeren Menschen in unserer Gesellschaft nicht toleriert werden. Aber das kann man ja nicht einfach den Opfern überlassen, hier sind alle gefragt.
Damit meinen Sie auch die Politik?
Wir hoffen, dass die kantonale Politik aktiv wird, deshalb stehen wir in Kontakt mit Politisierenden. Wir möchten, dass die Politik mithilft, die Bevölkerung zu sensibilisieren und queere Menschen zu unterstützen. Das deutliche Ja im letzten Jahr zur Vorlage «Ehe für alle» hat Mut gemacht, das war ein gutes Signal.
Die queere Community ist zuletzt mit politischen Forderungen laut aufgetreten.
Die Kampagne «Ehe für alle» habe ich persönlich als leise empfunden. Aber leider ist es immer noch Fakt, dass queere Menschen durch Mobbing, Ausgrenzung und Anfeindungen ein bis zu siebenfach höheres Suizidrisiko haben. Für mich würde dies auch ein lautes politisches Auftreten rechtfertigen.
Sie sind 40 Jahre alt und gefestigt. Wie reagiert eine 14-jährige Person bei einer Anfeindung?
Manche Jugendliche sind geplagt von Selbstzweifeln, das kann zu Suizidgedanken führen. Menschen, die noch in ihrer Entwicklung stehen, sind sich unsicher, ob sie vielleicht – salopp gesagt – nicht «normal» sind. Das kratzt enorm am Selbstbewusstsein. Nicht zu sich stehen können, ist belastend und frisst Menschen von innen her auf.
Werden Männer von Männern angefeindet, Frauen von Frauen?
Es ist so, dass sich gerade junge Männer in ihrer eigenen Sexualität gefährdet sehen, wenn sie mit queeren Menschen konfrontiert sind. Und nicht alle jungen Männer haben ein Problem mit queeren Menschen. Nur ein kleiner Bruchteil feindet Queers an, aber dies ist sehr belastend. Es sind hauptsächlich Männer, die queere Männer anfeinden. Interessanterweise sind es auch hauptsächlich Männer, die queere Frauen anfeinden.
Werden queere Menschen, die ihre sexuelle Zuordnung öffentlich nicht präsentieren, weniger angefeindet?
Klar. Wer sich optisch einer Norm unterordnet, erlebt definitiv weniger Anfeindungen.
Naiv gefragt: Wäre es besser, sich optisch nicht als queer erkennbar zu geben?
Andersherum gefragt: Darf man Menschen angreifen, nur weil sie anders aussehen? Niemand hat das Recht dazu, andere aufgrund ihres Aussehens anzufeinden. An Blicke habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Aber verbale oder körperliche Angriffe sind eine andere Kategorie.
Gibt es eine Grenze, wie man sich optisch zur Schau trägt?
Was soll man dann zum Fussballfan oder dem Porschefahrer sagen, die ebenfalls das zur Schau tragen, was ihnen lieb ist? Aber natürlich laufe ich an Orten, an denen ich mich sehr unsicher fühle, nicht erkenntlich als queerer Mensch herum. Die Frage für unsere Gesellschaft ist doch: Wollen wir das Anderssein ausgrenzen? Oder möchten wir eine Gesellschaft sein, die Vielfalt integriert und inkludiert, die sogar für sich selbst etwas gewinnen kann?
Gibt es Zivilcourage, wenn Sie angefeindet werden?
Das kommt immer darauf, wo man sich befindet. Zivilcourage kann je nach sozialem Raum sehr unterschiedlich sein. Es gibt aber schon auch Situationen, in denen man Unterstützung von Mitmenschen erhält.
Sie berichten von Anfeindungen durch junge Menschen. Wie sieht das bei älteren Menschen aus?
Da gibt es Unterschiede. Der Mann über 30 kann es sich nicht mehr leisten, in der Öffentlichkeit verbal oder körperlich zu entgleisen. Beim Mann unter 30 wird vieles noch als «unerwachsen» abgetan. Beim Mann über 60 sind die Anfeindungen weniger direkt, eher unterschwellig. Aber ich glaube, je älter man wird, umso überlegter äussert man sich.
Kann man nach dem Ja zur Vorlage «Ehe für alle» sagen, dass die Schweizer Gesellschaft tolerant ist?
Das muss man differenziert betrachten. An was messen wir Toleranz? Die Schweiz als Gesamtes hat Ja gesagt, aber 35 Prozent der Menschen haben ein Nein in die Abstimmungsurne gelegt. Übrigens: Gefreut, ja fast gewundert hat uns die Ja-Parole der jungen SVP.
Hat man es als queerer Mensch in einer Stadt einfacher als in einem Dorf?
Eine Stadt bietet Anonymität, man kann einander weniger ausweichen. Aber es ist nicht so, dass man in einem Dorf viel eher angefeindet würde – aber es ist dort einfach schwieriger, sich aus dem Weg zu gehen. Man ist dort eher ausgestellt.
Die Begriffe «schwul» und «lesbisch» sind längst allen bekannt. Nun werden unzählige weitere Orientierungen und Geschlechter definiert.
Das Problem ist, dass wir Menschen uns die Welt gerne einfach machen, damit wir sie verstehen können. Aber manchmal sind die Dinge komplexer als man sich vorstellen kann. So auch beim Thema Geschlechtlichkeit. Die ursprüngliche Ausgangslage war, dass alles Frau ist, was nicht Mann ist, und umgekehrt…
…und mittlerweile hat man gemerkt, dass es nicht nur Mann und Frau gibt.
Ja, man weiss, dass es auch etwas gibt, das dazwischensteht, oder vielleicht darunter oder darüber. So verschieden die Welt ist, so verschieden sind auch die Geschlechter.
Ich behaupte: Die Gesellschaft verliert die Übersicht bei der enormen Anzahl definierter Geschlechter.
Es existieren heute 144 sogenannte «Labels» für die sexuelle Orientierung und Geschlechter von Menschen. Inter-Geschlechtlichkeit ist ja kein Humbug, das ist biologisch erwiesen. Das macht sich aber nicht nur an Geschlechtsteilen fest, auch am Hormonhaushalt, an der DNA. Der Mann und die Frau sind die zwei Extreme, dazwischen gibt es ganz viel. Aber: Für mich ist jeder zuerst einmal Mensch.
Haben Sie Verständnis, wenn Menschen das «dazwischen» nicht richtig einordnen können?
Ja. Es liegt auch daran, dass das Thema noch nicht weit erforscht ist. Es kursiert viel Halbwissen, die Genderforschung hat einen langen Weg vor sich. Diese war bisher auf Mann und Frau fixiert. Man erkennt nun, dass der Mensch ein vielschichtiges Konstrukt ist. Es ist ein grosser Umdenkprozess für viele.
Der Begriff LGBTIAQ+ steht für Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Trans, Inter, A-, Queer und geschlechtliche, sexuelle und romantische Orientierungen bzw. Identitäten. Das Kürzel bezeichnet Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten, deren gemeinsames Merkmal es ist, dass sie nicht in die Norm der Heterosexualität und/oder des eindeutigen Zweigeschlechtersystems passen. Queer ist ein Überbegriff für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans und inter Menschen, beinhaltet aber zudem den Anspruch, Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität politisch wie auch theoretisch zu hinterfragen und zu «stören».