In den Werdenberger Schulen war um das Jahr 1800 Singen wichtiger als Rechnen | W&O

09.02.2022

In den Werdenberger Schulen war um das Jahr 1800 Singen wichtiger als Rechnen

Um 1803 führte man für werdende Lehrer eine drei- bis viermonatige Ausbildung ein. Davor lehrten sie den Kindern kaum Rechnen.

Von alexandra.gaechter
aktualisiert am 28.02.2023
Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 9 Franken im Monat oder 96 Franken im Jahr.

Der Werdenberger Lehrer David Hilty-Kunz (1822-1900) sammelte Notizen über das regionale  Schulwesen aus dem 18. und 19. Jahrhundert und veröffentlichte diese 1893 im «Werdenberger & Obertoggenburger». Der W&O rezitiert seine Notizen und gibt ein Bild in die damalige Schulzeit: Um 1793 fand in den Werdenberger Schulen keine Klasseneinteilung statt. Die jüngeren Kinder sassen wild durcheinandergemischt in der gleichen Klasse wie die älteren. Lesen lernten sie durch ein ABC-Büchlein. Zuerst wurde den Kindern alle Buchstaben beigebracht, dann lernten sie, Buchstaben zu Silben zusammenzusetzen und schliesslich, wie man Silben zu Wörtern zusammensetzt. Profane Texte gefielen besser Als Lesestoff diente der Katechismus. Dieser wurde so lange gelesen, bis fast alle die Sätze daraus monoton und geistlos hersagen konnten. Die Begabteren durften in der Bibel und in den Psalmen Davids lesen. Als Abwechslung brachten die Kinder Zeitungen und Kalender in die Schule, aus welchen gelesen werden konnte. Solche profanen Texte gefielen ihnen besser. Die Kinder des Bürgermeisters Hilty brachten die Zürcher Tageszeitung, Rössliblatt genannt, mit. Der Lehrer las ihnen daraus über die Französische Revolution vor. Ab 1803 durften keine Kalender und Zeitungen mehr als Lehrmittel dienen. Dies beschlossen die Schulräte. Lehrer Stricker schnörkelte beim Schreiben Beim Schreiben war die Vorgehensweise ähnlich. Zuerst schrieben die Schüler einzelne Buchstaben ab, danach Silben und Wörter und schliesslich Bibelsprüche. Beim Schreiben beschränkte man sich also auf das Abschreiben. Aufsätze oder eigene Gedankengänge wurden nicht verschriftlicht. Im Schönschreiben waren alle Schüler weit zurück, da die Lehrer meistens selbst nicht deutlich abschreiben konnten. Der 60-jährige Lehrer Stricker von der Stadtschule Werdenberg war indes berühmt für seine Handschrift, welche aus Malereien und Schnörkeleien bestand. Buben stahlen Äpfel W&O-Autor David Hilty-Kunz bemängelt das Disziplinarwesen einiger Lehrer im Werdenberg. So auch jenes des Lehrer Strickers. Hilty-Kunz beschrieb zwei Episoden aus Strickers Lehrerzeit, die erste handelte vom Äpfelstehlen. Lehrer Stricker besass ein Haus im Oberstädtli, in welchem er wohnte und in welchem er auch die Kinder unterrichtete. Ferner besass er einen Acker, einen Quader und eine Bünd mit reichlichem Obstwuchs. Buben, die in der Schule fleissig waren oder Mädchen die am Samstagnachmittag die Stube «fürbten» erhielten als Dank einen Apfel. Die restlichen Äpfel lagerte er im Keller. Eines Tages wurde er inne, dass die Buben regelmässig am Mittag Äpfel stahlen. Statt eines Hiebes mit dem Haselstock mahnte er nur:
Ihr Buben, i han denn’s Kellerfensterle zu gmacht, dass ihrs wüssen, ein für allemal.
Mit teigigen Händen packte der Lehrer Ueli am Schopf Ein andermal rief er während der Schulzeit einem hinausgehenden Mädchen nach «He, Lieseli, leg ein Schit unter d’Pfanne!» Dies hörten auch die Buben und so kam ihnen der Einfall, dass ein jeder ein Holzscheit ins lodernde Feuer legte. In der Folge verbrannten Speck und Rüben samt der Pfanne des Lehrers. Auf des Lehrers Frage, wer es war, ertönte nur «i nit « und «i au nit». Hierauf schwang der Lehrer den Haselstock ein paar Mal sausend durch die Luft, womit das Kapitel geschlossen war. Kannte Lehrer Stricker hingegen die Übeltäter, so verfuhr er strenger, wie die Geschichte des «Teigueli» zeigt. Der Lehrer knetete gerade Teig, als Webers Ueli und Klaus in die Stube eilten. Die Buben gerieten sich in die Haare, worauf der Lehrer rief:
I will eu helfen d’Schuppen (Haareraufen)!
Die Hände noch voll mit Teig sprang der Lehrer auf und packte die beiden am Schopf. Ueli, der mit Teigfetzen in den Haaren den Schultag verbrachte wurde fortan «Teigueli» genannt. Mit Fremdwörtern geprahlt Da der Lehrer Stricker zu den besten Lehrern im Werdenberg gehörte, prahlte er gerne im Wirtshaus «in hagestolzer Eitelkeit» von den aufgeschnappten Fremdwörtern addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren. Andernorts wurde rechnen in der Schule nicht gefördert. Die Lehrer konnten den Kindern oft nicht mehr beibringen, als die Tante Mathilde in der Kleinkinderschule Buchs. Im Werdenberg hiess es:
Wer ‘nen Sternengucker werden will, der soll nach Züri in d’Schul.
 Gemälde über eine «wertvolle Schullektion» aus dem 19. Jahrhundert.
Gemälde über eine «wertvolle Schullektion» aus dem 19. Jahrhundert.
Bild: Francesco Bergamini
Am Sonntagabend wurde gesungen Im Gegensatz zum Rechnen wurde Wert auf das Singen gelegt. So übte man das Solmisieren, das damals auch «ut, re, mi» genannt wurde. Man sang also die Tonleiter rauf und runter. Wenn das klappte, sangen die Schüler geistliche Lieder. Die Hauptgesangsübungen fanden sonntagabends im Winter statt. Es durften nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene daran teilnehmen. Die Leitung der Gesangsübungen übernahm gewöhnlich ein Lehrer, der vorsingen und taktieren konnte. Zum Schluss wurden noch einige weltliche Lieder gesungen. Die Singlust behielten die Kinder auch in späteren Jahren bei. Wein ausgeschenkt, mit dem Ziel, junge Männer als Rekruten anzuwerben An Markttagen kamen hie und da fremde Sänger mit der Harfe und sagen unbekannte Lieder. Junge, ledige Männer und Frauen sagen mit, bis sie die Melodie konnten und trugen die neuen Lieder dann am Sonntagabend in der Spinnstube vor. Die gelernten Lieder sang man auch bei den sogenannten Werbeanlässen im Löwen. Dabei wurde Wein ausgeschenkt und getanzt mit dem Ziel, junge Männer als Rekruten anzuwerben. So kam es vor, dass ein Jüngling im Freudentaumel seinen Werbevertrag unterzeichnete. Wer des Schreibens nicht mächtig war, kritzelte drei verhängnisvolle Kreuze aufs Blatt. Sein Leben mit einem Tanz eingetauscht Als Dank durfte er mit dem schönsten Mädchen tanzen. David Hilty-Kunz schrieb:
Das Lied verrauschte, die kurze Freude war dahin, die fade Ehre war eine bittere Täuschung. Der hoffnungsvolle Jüngling hatte sein eigenes Verderben unterschrieben. Selten kam einer wieder heim, der Leib und Seel errettete.
Für jeden angeworbenen Jüngling zahlte der Veranstalter des Tanzes dem Landvogt ein stilles Trinkgeld von einem Gulden. Dafür hatte er des Landvogts Schutz und konnte nach Belieben Gesang und Tanz veranstalten. Ohne Bildung zu höheren Ämtern Zurück zum Schulwesen: Zur Kantonsgründung 1803 wurde der Grundstein einer besseren Schule geschaffen. Der verhasste Werdenberger Landvogt war schon im Jahr 1798 entflohen, seiner Untertanen Rache fürchtend. In jeder Gemeinde musste sich nun ein Schulrat bilden unter dem Vorsitz des Ortspfarrers. In Rheineck entstand sogar eine Bildungsstätte für Lehrer. In drei bis vier Monaten wurde den angehenden Lehrern der Stoff eingepaukt. Ohne weitere Bildung zu geniessen, gelangten einige Lehrer zu hohen Ämtern und Ehren, wie zum Beispiel der Bezirksammann Rohrer aus Buchs, der Nationalrat wurde. Realschule geplant Der Vorteil darin bestand, dass sich diese Männer weiterhin für die Schule einsetzen konnten. So arbeiten im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts überall wackere Männer in der Region Werdenberg an der Verbesserung des Schulwesens: Kantonsrat Göldi, Sennwald; Gemeindeammann Lenherr, Gams; Markus Vetsch, Grabs; Schreiber Hilty, Werdenberg, die Herren Hagmann und Litscher, Sevelen, sowie Kommissär Sulser, Azmoos. In kurzer Zeit wollte man neben den derzeit sechs bestehenden Schulen für die grösseren Kinder eine Gemeindeschule in Grabs errichten. In dieser sollte vollends richtig schreiben, lesen und rechnen gelehrt werden. Ausserdem war Unterricht in Sprachen, Religion, Naturgeschichte und Geografie vorgesehen. Für diese Realschule wurde 1805 erstmals ein Lehrer gesucht, welcher ausser in deutscher und französischer auch in italienischer Sprache unterrichten konnte. Projekt wurde begraben Vier Jahre später wurde das Projekt «Grabser Realschule» begraben. David Hilty-Kunz schrieb, dass in Grabs von jeher der politische Horizont veränderlich war. Gerade hier, wo Private und der Schulrat alles Mögliche für das neue Schulwesen unternahmen, war das grösste Hindernis ein «gegen alle vernünftigen Vorstellungen unbiegsamer Gemeinderat.» Quelle: David Hilty-Kunz, Lehrer und Korrespondent; W&O von 1893