Keine andere Wissenschafterin hat letztes Jahr so viel Aufsehen erregt wie die ungarisch-amerikanische Biochemikerin Katalin Karikó. Nach über 40 Jahren Forschung ohne Anerkennung und finanzielle Unterstützung gewann sie im Dezember den Nobelpreis für Medizin – als Auszeichnung für die Entwicklung der mRNA-Technologie, die in Form der Covid-Impfung Millionen Menschen das Leben rettete.
Anders als andere Nobelpreisträger war Karikó der breiten Öffentlichkeit aber schon vorher bekannt. Denn ihre hürdenreiche Lebensgeschichte fasziniert Wissenschafter und Nichtakademikerinnen zugleich, wie man auch in diesen Tagen bei ihrem Auftritt an den öffentlichen Vorlesungen der «Novartis Lectures» in Basel wieder sehen konnte. Ein Gespräch mit einer Wissenschafterin, vor der Leute aus dem Publikum nach dem Vortrag wortwörtlich in die Knie gingen und die um Selfies gefragt wurde, als wäre sie Roger Federer.
Seit unserem letzten Gespräch ist viel passiert. Sie sind zum Gesicht zahlreicher Wissenschaftskampagnen für junge Leute geworden und haben den Nobelpreis für Medizin erhalten. Wie hat Sie das verändert?
Katalin Karikó: Ehrlich gesagt, nicht gross. Denn ich stand ja schon die letzten drei Jahre immer wieder in der Öffentlichkeit, und ich konnte mich deshalb einigermassen an den Rummel gewöhnen. Ich war eher beeindruckt, als ich einzelne Berühmtheiten wie Bill Gates oder Pfizer-CEO Albert Bourla traf, und diese wussten, wer ich bin. Da war ich wirklich zwei Tage lang schockiert.
Ich erinnere mich, dass Sie schon vor eineinhalb Jahren extrem viele Termine hatten. Ist das seit dem Gewinn des Nobelpreises noch schlimmer geworden?
Nein. Denn ich lehne seither praktisch alle Termine ab. Ich will mich wieder mehr auf grundlegende Forschung konzentrieren, auf das, was ich 40 Jahre lang gemacht habe. Ich habe das Gefühl, mit meinem Wissen da am meisten bewirken zu können, und würde mich schlecht fühlen, wenn ich diese Chance, etwas Gutes zu tun, auslassen würde. Sich so auf Forschung zu fokussieren, ist aber nur möglich, wenn man tausend unwesentliche Dinge absagt.
Seit letztem Monat sind Sie nicht mehr nur Dr. Karikó, sondern erstmals eine reguläre Professorin an der Universität Szeged.
Das stimmt, das hat einen etwas speziellen Hintergrund. Das Preisgeld von vielen der Awards, die ich erhalten habe, wird nicht an mich als Gewinnerin ausbezahlt, sondern an meine Uni. Das System ist gemacht für Professoren, die Teams führen und so mehr Forschungsgeld zur Verfügung haben. Ich war bisher aber gar nie Professorin und hatte kein eigenes Forschungsteam, darum konnte dieses Geld gar nicht genutzt werden – zum Beispiel 150 000 Franken von einem Schweizer Preis.
Ich habe das meiner Alma Mater erzählt und sie gebeten, mich für einen symbolischen Lohn von einem Forint anzustellen, so dass dieses Geld dann dem Nachwuchs der Universität zugutekommt. Das haben sie nun gemacht, und es gab letztens sogar eine Feier, wo der ungarische Staatspräsident Sulyok anwesend war.
Wie stellen Sie sicher, dass das Geld für die richtigen Projekte genutzt wird und nicht versandet?
Es gibt glücklicherweise bereits eine gute Forschungsgruppe dort, die sich mit meinem Thema mRNA beschäftigt. Ich habe geschaut, dass das Geld zu diesem Team kommt und entscheide mit bei der Verteilung für andere vielversprechende Projekte. Wir haben damit auch eine neue, zeitgemässe Unterkunft für die Versuchstiere der Universität bauen lassen.
Ausserdem habe ich von meinem Nobelpreisgeld eine halbe Million Dollar der Uni zur Verfügung gestellt, um einen jährlichen Nachwuchspreis von 10 000 Dollar für gute Studenten und Dozenten zu schaffen. Ich habe das sehr genau im Auge.
Haben Sie mit all diesen Projekten Zeit, ihre beiden Enkel zu sehen?
Ja, ich sehe sie mindestens einen Monat pro Jahr in den Ferien. Wir machen das so, dass meine Tochter die Enkel für einen Monat zu mir, meinem Mann und meiner Schwester bringt. Die Eltern sind in den Ferien, und wir hüten die Kleinen dann zu dritt. Was mich besonders freut, ist dass meine Enkel in den Sommerferien nach Ungarn gehen und auch Ungarisch lernen. Dies hat übrigens schon bei der Erziehung meiner Tochter funktioniert. Sie hat als Teenager anfangs Sommer immer auf Englisch geantwortet. Nach den Sommerferien bei der Grossmutter in Ungarn sprach sie dann aber gutes Ungarisch.
Gerade sorgen die Studentenproteste wegen des Nahostkonflikts weltweit für Aufregung, die Universitäten sind davon besonders betroffen. Was halten Sie davon?
Ich bin Stoikerin und wende dies auf diese Frage an. Ich kenne nicht alle Details der aktuellen Kriege und kenne mich bezüglich Hintergrund der Konflikte auch nicht besonders aus. Ich habe auch keine Zeit, mich diesbezüglich einzulesen. Ich wünschte mir aber, dass die Menschen aufhören würden zu streiten und sich auf die Herausforderungen der ganzen Menschheit konzentrieren würden.
Sie unterstützen also keine Partei?
Nein. Aber ich fühle stark mit den Wissenschaftern auf beiden Seiten mit. Wissenschaft sollte, genau so wie der Sport, ein universelles Gut sein, das die Menschen verbindet, unabhängig von deren Herkunft. So sollte man zum Beispiel auch Wissenschafter aus allen Ländern respektieren. Sie sind nicht schuld an der politischen Ausrichtung ihres Landes und leiden teilweise selbst darunter.
Neben den politischen Krisen gibt es auch gesundheitliche, etwa das sich verschlimmernde Problem mit den Antibiotikaresistenzen. Wie optimistisch sind Sie, dass die Wissenschaft dafür rechtzeitig Lösungen findet?
Diesbezüglich bin ich optimistisch. Es gibt viele junge brillante Köpfe, die ganz neue Ideen entwickeln und uns auf völlig neuen Wegen aus einer Sackgasse führen können. Ich denke da zum Beispiel daran, dass es lange schwierig war, eine Impfung gegen die Antigene von Borrelien in Zecken zu finden. Nun gibt es aber die Idee, mit mRNA eine Impfung gegen Zeckenspeichel zu entwickeln, und so den Eintritt der Bakterien ins Immunsystem zu verhindern. Das scheint in Tierstudien ganz gut zu funktionieren, und solche brillanten Lösungen wird man immer wieder finden.
Und was halten Sie von Phagen, also den Viren, die Bakterien fressen und die als Alternative zu Antibiotika gelten?
Ich finde, sie haben riesiges Potenzial. Ich habe gerade letztens einen Wissenschafter aus Rostock angeschrieben, der etwas Spannendes publiziert hat und mit dem ich nun zusammenarbeite. Wir kombinieren mRNA und die Enzyme aus Phagen, um multiresistente Staphylococcus aureus zu bekämpfen. Ich hatte die Idee schon 2012, aber es sprang niemand darauf an. Jetzt habe ich meine alten Notizen dem jungen Forscher geschickt, und der war ganz begeistert, dass jemand schon vor 10 Jahren diese Idee hatte.
Ärgert es Sie nicht, wenn jemand eine Idee ausführt, welche Sie zuerst hatten?
Überhaupt nicht! Im Gegenteil, ich freue mich immer, wenn jemand etwas Neues erforscht und publiziert, und wir dadurch die Welt besser verstehen. Darum habe ich meinen Anfragebrief an den Phagenforscher aus Roststock auch mit grossem Vergnügen geschrieben.
Sie haben nicht nur mit Wissenschaftern Kontakt, sondern auch viel mit Politikern. Versuchen Sie bei solchen Treffen, Einfluss zu nehmen?
Ja, das mache ich immer. Ich frage jeweils an Vorträgen aktiv nach: «Na, ist jemand von der Regierung auch hier?» Es geht mir dabei vor allem darum, dass die politischen Rahmenbedingungen so verändert werden, dass man mehr Frauen im Beruf halten kann und dass sie fürs Kinderkriegen nicht den Job aufgeben müssen. Wir brauchen dafür unbedingt bezahlbare hochwertige Möglichkeiten zur Kinderbetreuung.
Sie standen auch schon im Fokus von Impfgegnern, eine ungarische Kleinstpartei betitelte Sie als Massenmörderin. Was sagen Sie etwa zu jenen, die behaupten, die Covid-Impfung enthalte verunreinigte DNA?
Wir müssen die Öffentlichkeit besser informieren und ausbilden, damit sie Wissenschaft besser versteht. Man muss die Details verstehen. Denn selbst wenn Sie pure DNA in den menschlichen Körper injiizieren würden, würden diese DNA-Fragmente sich nicht in die Chromosomen eingliedern. Die Aufnahme von fremdem Genmaterial in den Körper ist ein hochkomplexer Prozess, der ohne spezialisierte Moleküle nicht funktioniert.
Nur ganz bestimmte Viren haben diese Moleküle, deshalb kann es gar nicht sein, dass durch die Impfung das menschliche Erbgut sich verändert. Die sensationellen Studien, welche Impfgegner immer wieder präsentieren, haben alle methodische Mängel.
Was halten Sie von Wissenschaftern wie dem deutschen Professor Bhakdi, der solche Theorien unterstützt und verbreitet?
Ich bin immer wieder schockiert davon, wie ruhig solche selbsternannten Impfexperten ihre Nonsense-Argumente der Öffentlichkeit präsentieren. Ich weiss nicht, was die Motivation dafür ist. In den USA ist es aber so, dass die radikalen Impfgegner alle auch irgendwelche Produkte verkaufen, und dass das Ganze für sie möglicherweise ein Business ist. Im Allgemeinen habe ich aber oft versucht, auch Impfgegner-Plattformen zu antworten, wenn sie mich mit irgendwas konfrontiert haben.
Wie ist der Ruf der Schweiz in den USA, hat die hiesige Wissenschaft Gewicht?
Ja, absolut, Schweizer Forscher haben eine grandiose Reputation. Man anerkennt, dass die Universitäten und Schulen hier sehr gute Arbeit leisten. Das liegt auch daran, dass über Jahrhunderte viel Geld in Ausbildung und Forschung investiert wurde. Gerade holen andere Länder wie China aber sehr schnell auf.
Die Hartnäckige
Katalin Karikó (69) wurde in Ungarn geboren. Bereits in ihrer Doktorarbeit ging es um RNA. 1985 verlor ihr Labor die Finanzierung, sie emigrierte mit ihrer Familie in die USA. 1998 traf sie Drew Weissman mit dem sie danach an der Entwicklung von mRNA-Medikamenten forschte. 2012 wurde sie von der Uni Pennsylvania entlassen und traf in Deutschland Özlem Türeci und Uğur Şahin, die Gründer von Biontech, wo sie bis 2022 Vize-Präsidentin war. Ihre Tochter ist zweifache Olympiasiegerin im Rudern.