Markus Bicker verbringt heuer den vierten Sommer als Hirt auf der Alp Naus. «Für mich war seit einiger Zeit klar: Die Frage ist nicht, ob der Wolf kommt oder nicht, die Frage ist nur, wann er kommt.» Gekommen ist er in einer Nacht und hat die Ziegenherde auf Alp Naus angegriffen. Am 30. Juni wurden fünf tote Ziegen gefunden, die offiziell bestätigt von einem Wolf gerissen wurden (der W&O berichtete am 13. Juli).
Der Alphirt vermutet, dass dem Wolf sogar sieben Ziegen zum Opfer gefallen sein könnten, denn von zwei fehlt noch immer jede Spur.
Die Chancen sind klein, dass wir sie lebend finden.
«Das Raubtier ist seinem natürlichen Trieb gefolgt»
Die Herde war nicht geschützt und darum ein leichtes Opfer für den Wolf. Der Entscheid gegen Schutzmassnahmen sei allen Betroffenen nicht leicht gefallen, sagt Bicker, man habe sehr wohl das Für und Wider abgewogen. Bisher habe es noch keinen Wolfsriss auf der Alp gegeben und er habe erst einmal ein Tier gesehen, bei dem es sich eventuell um einen Wolf gehandelt habe, erzählt der Älpler. Er ist dem Wolf nicht böse, «das Raubtier ist ja nur seinem natürlichen Trieb gefolgt». Andererseits hätten domestizierte Nutztiere wie in diesem Fall die ursprünglich 72 Ziegen auf der Alp ihren Fluchtinstinkt verloren. Für Bicker ist klar:Meines Erachtens ist die Schweiz zu dicht besiedelt für die vielen Wölfe, die wir inzwischen haben.Deren Population werde zudem immer grösser, weil Wölfe in unserem Land keine natürlichen Feinde hätten.
Abzug von der Alp oder Herdenschutzmassnahmen
Nach dem Wolfsriss blieb den Tierhaltern und dem Alppersonal die Wahl zwischen dem Abzug der Tiere von der Alp oder dem Einrichten von Herdenschutzmassnahmen. Die Tiere nach dem Wolfsriss weiterhin ohne Schutzmassnahmen dem Raubtier auszusetzen, wäre wohl kein gangbarer Weg, sagt Bicker. Sechs Männer haben schliesslich einen ganzen Tag lang einen Schutzzaun aus rund 20 Netzen gebaut. Das war im steilen und steinigen Gelände aufwendig und anstrengend – nicht zu vergleichen mit dem Bau eines Zauns auf Talweiden. Und im Herbst muss er ja auch wieder abgebaut werden. Ausserdem braucht er Strom. In felsigem Gelände kam sogar ein Akkubohrer zum Einsatz, um die Zaunpfähle im Boden zu verankern. Einige steile Felswände erwiesen sich als Glücksfall, weil sie einen natürlichen Schutzzaun bieten.Vielleicht reicht die Weide bis Ende Saison
Das eingezäunte Gebiet sollte eigentlich gross genug sein für die Versorgung der Ziegenherde bis zum Ende der Alpzeit, erklärt der Älpler. Dann ist jetzt, nach dem natürlich schmerzlichen Verlust der Tiere und nach dem grossen Aufwand für die Herdenschutzmassnahmen ja alles gut. Mitnichten, betont Markus Bicker.Der Wolf ist ein intelligentes Tier, irgendwann wird er eine Lösung finden, auch diesen Zaun zu überwinden.Bicker ist überzeugt, dass seine Feststellung vom Anfang dieser Geschichte abgeändert noch immer gilt: «Die Frage ist nicht, ob der Wolf den Zaun überwindet oder nicht, sondern nur wann ihm dies gelingt.» Selbst geschützte Nutztiere seien wohl leichter zu erbeuten als Wildtiere, die mit ihrem natürlichen Fluchtinstinkt den Wolf vor grössere Probleme stellen.
Auf der Alp sind auch noch wehrlose Kälber
«Mit dem Herdenschutzzaun sind nicht einfach alle Probleme gelöst», sagt Markus Bicker, «denn auf unserer Alp gibt es auch noch viele junge Kälber». Der Alphirt sagt, dass auch eines der Kälber die Beute eines Wolfes werden könnten. Sie einzuzäunen oder nachts einzustallen sei noch aufwendiger bzw. unmöglich. Weil Kälber mehr und anderes Futter fressen als Ziegen, müsste beispielsweise der Schutzzaun auch mehrmals verschoben werden. Bicker spricht ein weiteres Problem an. Was passiert bei einem nächtlichen Angriff eines Wolfes, wenn Nutztiere auf ihrer Flucht abstürzen und dabei getötet werden?Wenn wir dann nach so einem Vorfall keinen Wolfsriss und keine Wolfsspuren nachweisen können, dann stehen automatisch die Hirten in der Kritik, nicht gut zu ihrer Herde geschaut zu haben.Alle Nutztiere auf den Alpen seien wichtig für deren Erhalt, sagt Bicker. Ziegen beispielsweise wirken durch ihr Fressverhalten der weiteren Verbuschung der Alpen entgegen.