In Wolfhalden lag der erste Schnee des Winters, als Andreas Züst die Katze zum ersten Mal sah. Im halblangen Fell hingen Eiszapfen, als sie Ende November vor der Türe beim Nachbarn sass und Einlass verlangte. Da beim Nachbarn jedoch bereits zwei Katzen wohnten, nahm Andreas Züst die schildpattfarbene Fremde bei sich auf. Züst erzählt:
Sie war eine edle, wirklich schöne und vor allem liebe Katze. Ich nannte sie Lucky, denn in dem Wetter hatte sie Glück gehabt.Andreas Züst wohnt etwas ausserhalb von Wolfhalden, zwischen Wiesen und Wäldern. Bei ihm in der Nähe leben viele Katzen, Lucky war aber anders. Anwohner erzählten Züst, dass sich Lucky erst seit etwa zwei Monaten in Wolfhalden herumtrieb. Sie schien keinen Besitzer zu haben. «Ich vermute, Lucky hat in einer Scheune in der Nähe gewohnt und, als es kalt wurde, einen neuen Platz gesucht.»
Fremde Katzen sollte man nicht füttern
Doris Huber ist Vorstandsmitglied beim Appenzeller Tierschutzverein in Herisau. Sie sagt: «Grundsätzlich gehen Katzen nicht verloren.» Eine zutrauliche Katze, die im Garten auftaucht, habe wahrscheinlich ein Zuhause. «Sie sind Streuner. Wenn sie sich langweilen, erkunden sie halt die Umgebung.» Ist eine Katze dennoch heimatlos, dann liegt das laut Huber meistens daran, dass die Familie wegzieht und die Katzen zurücklässt. Wer eine heimatlose Katze im Garten vermutet, soll sich an die Polizei oder den Tierschutzverein wenden. Doris Huber etwa führt Listen zu allen vermissten und zugelaufenen Katzen. Auch helfe es, in der Nachbarschaft herumzufragen, ob jemand die Katze kennt. Wirke die Katze dünn oder kränklich, sollen Tierschutz oder die Polizei unbedingt informiert werden, so Doris Huber. Auf keinen Fall soll man eine fremde Katze füttern, warnt sie. Sonst komme die Katze wieder. Andreas Züst richtete derweil im geschützten Vorraum seines Hauses eine Höhle mit Schaffell für die Katze ein. Lucky verbrachte die Nacht, genoss den Zmorgen, den Züst ihr servierte, und verschwand wieder im Schnee. Gegen Nachmittag kam sie wieder zurück. «Ich wollte es eigentlich nicht, aber mein Herz ging schon etwas auf», sagt Andreas Züst. Am zweiten Tag brachte Züst die Katze beim pensionierten Tierarzt Johannes Enz vorbei. Dieser meinte, das Büsi sei gesund, jedoch nicht gechippt. Daraufhin meldete Züst die Katze online in der Tiermeldezentrale Schweiz und verteilte Flyer bis nach Heiden. Ursprünglich ging er von einem Radius von 25 Kilometern aus. Mit einem Anruf aus dem 170 Kilometer entfernten Grenzach (D) bei Basel hatte er nicht gerechnet.Mit DHL nach Wolfhalden
Am Abend um Viertel nach acht meldete sich eine junge Frau aus Deutschland bei Züst. Sie sei überzeugt, dass Lucky ihre Katze Mia sei. Mia ist zu drei Vierteln eine Maine-Coon-Katze und war über ein Jahr zuvor verschwunden. Züst war erst misstrauisch: «Auf der Website der Tiermeldezentrale gibt es so viele Katzen, die ähnlich aussehen. Und wie kommt eine Katze von Grenzach nach Wolfhalden?» Durch den Austausch von Fotos und Videos konnten sie Lucky jedoch eindeutig als Mia identifizieren. Die Besitzer leben in der Nähe eines Industriegebietes, in welchem die DHL ein grosses Logistikzentrum zur Belieferung der Schweiz betreibt. So könnte Lucky auch den Weg nach Wolfhalden gefunden haben, vermutet Züst.Ich hatte etwa zwei Monate zuvor eine Sauna durch einen Lastwagen der DHL geliefert bekommen. Ich kann mir vorstellen, dass die Katze da mitfuhr und erst in Wolfhalden wieder ausstieg.Doris Huber vom Appenzeller Tierschutz sagt, das sei gut möglich. «Katzen sind unglaublich neugierig. Es kommt immer wieder vor, dass sie bei Handwerkern oder Lieferanten unbemerkt einsteigen.» Schon der Weg über einige Gemeindegrenzen könne dann zu lange und gefährlich sein, als dass die Katze wieder Nachhause finde. Doris Huber rät, wer seine Katze rasch wieder finden will, lässt sie chippen und bei der Datenbank Anis registrieren.
Mia ist wieder zu Hause
Die deutsche Besitzerin holte Lucky am nächsten Tag in Wolfhalden ab. Andreas Züst sagt: «Obwohl sie nur ein paar Tage bei mir war, wurde ich etwas wehmütig beim Abschied. Wir haben uns einfach verstanden.» Dabei hätte ein Haustier gerade nicht in seine Pläne gepasst. Züst möchte mit einem VW-Bus Europa bereisen. Corona hielt ihn bisher davon ab. Und trotzdem:Hätte sich niemand gemeldet, dann hätte die Katze bei mir bleiben können. Ich hätte ihr sogar einen Katzenbaum gebaut.Die dankbare Besitzerin hätte sich noch einige Male bei Züst gemeldet. Erst habe die Katze viel geschlafen, vertrage sich aber gut mit den zwei zurückgelassenen Katzen. Andreas Züst dagegen machte zum zweiten Mal die Wanderung nach Heiden, um alle Flyer wieder einzusammeln.