Sohn sei entführt worden: Rheintaler Rentnerin bekommt Schockanruf | W&O

01.12.2022

Sohn sei entführt worden: Rheintaler Rentnerin bekommt Schockanruf

Telefonbetrug gibt es schon seit Jahren. Die Art und Weise, wie die Angerufenen unter Druck gesetzt werden, wird jedoch zunehmend perfide. Fast wäre eine Rheintalerin diesen Leuten aufgesessen.

Von Iris Oberle
aktualisiert am 28.02.2023
Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 9 Franken im Monat oder 96 Franken im Jahr.

Ihre Geschichte hört sich an wie ein Krimi mit Miss Marple. Es ist Frühling, kurz vor Mittag, als das Telefon von Anna D. (Name der Red. bekannt) klingelt. Zwei Männerstimmen, angebliche Polizisten, berichten, ihr Sohn sei im Ausland entführt worden. Anna D. zweifelt. Am Vortag hatte sie noch mit ihm telefoniert. Doch die Männer, die sich Herr Tobler und Herr Bischofberger nennen, reden pausenlos auf sie ein. Dann die Forderung: 100'000 Franken für die Freilassung des Sohnes.

Betrüger kennen Details über den Sohn

Eine gewisse Frau Mazenauer von der Staatsanwaltschaft würde vorbeikommen und sie zur Bank begleiten. Die Betrüger kennen Details über den Sohn von Anna D., sie wird unsicher. Sie braucht Zeit, um zu überlegen. Die Männer am Telefon bestehen darauf, dass Anna D. den Anruf nicht unterbricht. Unter dem Vorwand, sie müsse erst etwas essen, geht sie in die Küche, schaltet das Radio ein und klappert mit den Pfannen. Sie legt den Hörer hin. Dann holt sie ihre Nachbarin zu Hilfe.

Zeit schinden, bis die Polizei kommt

Die Nachbarin begleitet Anna D. in deren Wohnung und ruft die Polizei an. Derweil setzt die 74-Jährige mit den vermeintlichen Polizisten das Gespräch fort. Sie bringt ihre Zweifel vor. Herr Tobler und Herr Bischofberger werden hörbar wütend. Frau Mazenauer, die angebliche Staatsanwältin, welche den Fall behandle, würde gleich da sein. Inzwischen hält ihre Nachbarin sie mit Informationen, auf Zettelchen geschrieben, auf dem Laufenden: Anna D. soll die Betrüger hinhalten, die Polizei sei unterwegs. Es klingelt. Frau Mazenauer steht vor der Tür, drängt sich in die Wohnung. Eine grosse Frau mit dichten, dunklen Augenbrauen. Ihr Handy in der Hand, am anderen Ende der Verbindung die beiden vermeintlichen Polizisten. Das Taxi warte, drängt sie, Anna D. solle sich beeilen. Die Rentnerin überlegt kurz, sagt, sie wolle mit ihrem eigenen Auto fahren.

Anna D. will nicht zur Bank Fahren

Während Frau Mazenauer den Taxifahrer wegschickt, schleicht sich die Nachbarin über das Treppenhaus in den oberen Stock. Sekunden später steht Frau Mazenauer wieder da. Sie und Anna D. verlassen die Wohnung. Auch die Nachbarin verlässt das Haus, schnappt sich einen Besen und wischt vor den Garagen, um unauffällig in der Nähe bleiben zu können. Anna D. sagt Frau Mazenauer, sie hätte keine Lust, mit ihr zur Bank zu fahren. Nervös teilt diese den Männern mit, die Rentnerin wolle einen Rückzieher machen.

Polizisten in Zivil tauchen auf

Drohungen werden laut, der Sohn werde sterben. Dann geht alles schnell: Zwei alte Autos fahren vor, Polizisten in Zivil steigen ­eilig aus. Sie überwältigen Frau Mazenauer, die sich mit Händen und Füssen wehrt. Ihr Schreien fährt Anna D. und ihrer Nach­barin durch Mark und Bein. Zu dritt gelingt es den Polizis­ten schliesslich, die Frau festzunehmen.
 Die Polizei schnappt Frau Mazenauer. Symbolbild: Gian Ehrenzeller/Keystone
Die Polizei schnappt Frau Mazenauer. Symbolbild: Gian Ehrenzeller/Keystone
Kurze Zeit nach diesem Vorfall meldete sich die Polizei bei Anna D., erkundigte sich nach ihrem Befinden und bot ihr Hilfe an. In einem Schreiben bedankte sie sich ausserdem bei ihr und der Nachbarin. Mit der Verhaftung von Frau Mazenauer seien die Ermittlungen entscheidend vorangekommen.

Rüstige Rentnerin mit herzhaftem Lachen

Mittlerweile ist ein halbes Jahr vergangen. Eigentlich wollte Anna D. ihre Geschichte nicht erzählen. Sie weiss, dass sie die vermeintlichen Polizisten am Telefon hätte abwimmeln sollen. Deswegen schämt sie sich ein wenig und möchte nicht, dass ihr Name genannt wird. Doch die Geschichte sprudelt aus der rüstigen Rentnerin nur so heraus. An jedes Detail erinnert sie sich. Immer wieder lacht sie herzhaft, wenn sie an ihre Hinhaltungsstrategie zurückdenkt. Doch es ärgert sie, dass sie sich auf das Geschehene eingelassen hatte. Vor allem aber, dass sie zeitweise an die Entführung glaubte, obwohl ihr diese Telefonbetrüger-Geschichten bekannt sind:
Ich hätte nie im Leben gedacht, dass mir so was passieren könnte.

Bereits in 13 Tatbeständen ermittelt

Hanspeter Krüsi, Leiter Kommunikation der Kantonspolizei St. Gallen, bestätigt die anhaltenden Fälle von Telefonbetrügereien. «Dieses Jahr haben wir bereits in 13 Tatbeständen ermittelt. Dabei wurden Personen um über 600'000 Franken betrogen. Und die Dunkelziffer ist hoch.» Allein der Kanton Zürich meldet bereits eine Schadenssumme von sechs Millionen Franken, wie es auf der Web­site telefonbetrug.ch heisst. Schweizweit dürfte sich der Schaden auf weit mehr als acht Millionen Franken belaufen. Hanspeter Krüsi sagt:
Es macht mich wütend, wenn vorwiegend älteren Menschen ihr mühsam erspartes Geld einfach gestohlen wird
«Dabei betreiben wir enorm viel Prävention. Doch die Betrüger lassen sich ständig neue Maschen einfallen.» Im Moment gibt es viele Schockanrufe, bei denen Unfälle von Verwandten geschildert werden. Dann werden Geld oder Wertsachen gefordert. Die Angerufenen werden unter Zeitdruck gesetzt, der Wortlaut ist oft autoritär.

Nie fordern Polizei oder Staatsanwaltschaft Geld

Immer häufiger recherchieren die Betrüger vor der Kontaktaufnahme und personalisieren so die Informationen. Ausserdem gibt sich die Täterschaft als Polizei oder Staatsanwaltschaft aus. Hierbei handelt es sich um eindeutige Warnsignale. Hanspeter Krüsi betont: «Der Bevölkerung muss bewusst werden: Nie, gar nie, fordern Polizei oder Staatsanwaltschaft Geld!» Die Drahtzieher würden vorwiegend aus der Türkei agieren. Der Polizei gelingt es immer wieder, Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. «Leider ist es ein Teufelskreis», sagt Hanspeter Krüsi, und fügt an:
Wird eine Bande überführt, steht schon die nächste in den Startlöchern.
Den älteren Personen rät er, im Telefonbuch nur den ersten Buchstaben des Vornamens eintragen zu lassen. Bei einem verdächtigen Anruf soll man unverzüglich auflegen und die Polizei (117) zu informieren.

Keine Folgen für ihr Wohlbefinden

Anna D. hat die Geschichte abgehakt. Angst spürte sie nie. In ihrem Leben musste sie schon schwierigere Situationen meistern. Letztes Jahr verbrachte sie mehrere Monate im Spital, bis ihr die Ärzte nicht mehr helfen konnten. Gut betreut von der Familie und Bekannten ging es ihr zu Hause von Tag zu Tag besser. «Ich hatte keine Angst vor dem Sterben», sagt sie. «Dennoch bin ich unendlich dankbar, dass es mir wieder gut geht. Das hat mich stark gemacht. Zudem war ich schon immer ein positiver Mensch.»