SP-Kantonsrätin Katrin Schulthess: «Wir wollen die Armut präventiv bekämpfen» | W&O

09.12.2022

SP-Kantonsrätin Katrin Schulthess: «Wir wollen die Armut präventiv bekämpfen»

SP und Grüne stellen Forderungen nach einem gezielten Armutsmonitoring im Kanton St. Gallen. Dabei sollen aktuelle Entwicklungen aufgezeigt und daraus wirksame Massnahmen abgeleitet werden, heisst es in dem politischen Vorstoss, welchen die SP-Kantonsrätin Katrin Schulthess ausgearbeitet hat.

Von armando.bianco
aktualisiert am 28.02.2023
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Mit einem in der letzten Woche im Kantonsrat eingereichten Postulat fordert die SP-Fraktion/Grüne-Fraktion die St. Galler Regierung auf, ein Monitoring zur Prävention und Bekämpfung der Armut im Kanton St. Gallen einzurichten. Grund für diese Forderung an die Kantonsregierung sei die Ausbreitung der Armut in der Schweiz. Laut Zahlen des Bundes waren in der Schweiz im Jahr 2020 rund 722000 Menschen (8,5 Prozent der Bevölkerung) von Armut betroffen. Das bedeutet, dass sie inklusive Sozialleistungen nicht über genügend Einkommen verfügen, um das soziale Existenzminimum sicherzustellen. Weitere 6,9 Prozent der Bevölkerung seien armutsgefährdet. Diese Zahlen seien tendenziell steigend, heisst es im Postulat.
 Alleinerziehende gehören häufig zu den von Armut betroffenen Menschen.
Alleinerziehende gehören häufig zu den von Armut betroffenen Menschen.
Bild: Christof Schürpf/Keystone

Vertiefte Analyse aus kantonaler Sicht gewünscht

Armut sieht Kathrin Schulthess als «breites Phänomen in der Schweiz, das von der Sozialhilfe oder der Arbeitslosenversicherung nicht vollständig erfasst wird». Eine vertiefe Analyse aus kantonaler Sicht sei deshalb unumgänglich. Im Postulat wird darauf hingewiesen, dass andere Kantone bereits beschlossen hätten, ein Armutsmonitoring einzuführen. Der Kanton St. Gallen solle diesen Weg nun auch gehen, zumal in den letzten Jahren wiederholt in Aussicht gestellt worden sei, Arbeiten für ein Armutsmonitoring voranzutreiben. Was will man mit dem Armutsmonitoring erreichen? Katrin Schulthess: Wir wollen den Ursachen von Armut in der Schweiz auf den Grund gehen, sie präventiv bekämpfen und fordern von der Regierung Antworten in Bezug auf die Entwicklung. Aufgrund der Ergebnisse werden Hinweise auf Massnahmen offengelegt. Zudem wird deutlich, in welcher Bevölkerungsgruppe Armut besonders häufig auftritt. Das fordert die Politik heraus, entsprechende Schlüsse zu zielen. Die Inflation liegt bei geschätzten drei Prozent. Warum trifft das Menschen in Armut härter? Die Entwicklung der Inflation und die drei Prozent sind aus meiner Sicht nicht verlässlich. Bei den massiv steigenden Lebenskosten und Krankenkassenprämien müssen Betroffene abwägen, ob man teures Gemüse oder Fleisch kauft, denn jeder Franken zählt. Alles, was teurer wird, fällt für alleinerziehende Familien oder Einzelpersonen in Armut ins Gewicht.
 SP-Kantonsrätin Katrin Schulthess aus Grabs.
SP-Kantonsrätin Katrin Schulthess aus Grabs.
Bild: Archiv
Besteht für diese Menschen kein Spielraum? Für Nichtbetroffene ist es schwer nachvollziehbar, welchen Spagat betroffenen Menschen täglich vollziehen müssen. Die Inflation trifft sicher alle Menschen in der Schweiz, jedoch haben Besserverdienende bedeutend mehr Spielraum, wo sie einen Ausgleich für Einsparungen machen können. Welche Kosten zieht das für die Allgemeinheit mit sich? Menschen oder Familien, die als Folge von Armut in die soziale Isolation abdriften, leiden häufig an gesundheitlichen Problemen. Zu beobachten sind auch psychosoziale Schwierigkeiten, Depressionen, Perspektivlosigkeit und mehr. Familien oder Einzelpersonen, die in Armut leben, sind auf Sozialleistungen wie Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe, die Arbeitslosenversicherung oder Prämienverbilligung angewiesen. Ohne genaue Zahlen zu nennen, ist mit erheblichen Folgekosten zu rechnen. Armut in der «reichen» Schweiz. Ist die Gesellschaft genug sensibilisiert? Armut in der «reichen» Schweiz wird aus meiner Sicht tabuisiert, weil das Thema immer noch schambesetzt ist. Armut wurde bis jetzt nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit behandelt und wahrgenommen. Ich gehe zudem von einer hohen Dunkelziffer aus. Woher diese Einschätzung? In meiner beruflichen Tätigkeit habe ich oft Menschen begleitet, die den Gang zum Sozialamt um jeden Preis umgehen wollten. Hinzu kommt, dass vielen Bürgern und Bürgerinnen nicht bewusst ist, wie sie Ergänzungsleistungen oder Prämienverbilligung beantragen können. Da braucht es aus meiner Sicht zusätzliche Beratungsangebote. Wer ausser der Politik sollte sich um das Thema Armut kümmern? Armut betrifft uns in der Schweiz alle. Die Auswirkungen tangieren sämtliche Lebensbereiche. Aus diesem Grund werden in Zukunft sämtliche Behörden in den Städten und Gemeinden stark gefordert sein und müssen sich verstärkt um die Betroffenen kümmern. Was heisst das genau? Ich stelle mir vor, dass verschiedene Fachpersonen von Gemeinden, der Arbeitslosenkassen sowie auch Betreuungs- und Fachpersonen in verschiedenen Disziplinen künftig vermehrt gefordert sind. Ich wünsche mir, dass Armutsbetroffene von der Gesellschaft nicht mehr stigmatisiert werden und wir gemeinsam wirkungsvolle Unterstützung leisten können. Armut kann alle treffen.   «Ihre Situation ist prekär»: Definition von Armut Wenn der Lohn einer Person den gesetzlich festgelegten Grundbedarf für Lebensunterhalt wie Wohnkosten und obligatorische Krankenversicherung für sich – und für ihre Familie – nicht finanzieren kann, gilt diese als arm. Eine armutsbetroffene Einzelperson hat in der Schweiz 2279 Franken pro Monat zur Verfügung, eine Zweielternfamilie mit zwei Kindern unter 14 Jahren 3976 Franken. Als armutsgefährdet werden Personen bezeichnet, die ein deutlich tieferes Einkommen als die Gesamtbevölkerung haben. «Ihre Situation ist prekär, eine unerwartete Ausgabe von über 2000 Franken kann die Person oder Familie nicht bewältigen», stellt SP-Kantonsrätin Katrin Schulthess (Grabs) fest. Armutsgefährdete Personen riskieren, sozial ausgeschlossen zu leben, weil sie sich viele Aktivitäten zusammen mit anderen Menschen nicht leisten können und sich deshalb zurückziehen. Armut wird erfahrungsgemäss auch weitervererbt. «Kinder, die in sozial schwachen Familien aufwachsen, kommen meist nicht aus dieser Negativspirale heraus», so Katrin Schulthess.