Termin durch die Lappen gegangen: Coronatrick rettet Gerichtsverhandlung | W&O

23.03.2022

Termin durch die Lappen gegangen: Coronatrick rettet Gerichtsverhandlung

Der Auftritt der Staatsanwaltschaft am Kreisgericht in Mels liess für einmal zu wünschen übrig. Sie glänzte durch Abwesenheit. Aus der beantragten Haftstrafe wurde nichts. Der Beschuldigte kassierte einen Freispruch.

Von Reinhold Meier
aktualisiert am 28.02.2023
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Angeklagt war ein 30-Jähriger aus Bern, der den neuen Partner seiner Exfreundin lebensgefährlich bedroht haben sollte. Dies bei der turnusmässigen Übergabe des gemeinsamen Kindes. Mit dem Auto sei er schnell und äusserst gefährlich so nahe an den Konkurrenten herangefahren, dass der um sein Leben fürchten musste und erst im letzten Moment davonspringen konnte. Weil knapp eineinhalb Jahre Knast beantragt waren, hatte die Staatsanwaltschaft die Sache persönlich zu vertreten. Der Verhandlungstermin war einvernehmlich vereinbart worden.

Staatsanwalt hat den Gerichtstermin vergessen

Als es aber losgehen sollte, waren zwar der Beschuldigte und seine Anwältin pünktlich aus dem fernen Bern angereist. Allein, es fehlte der Ankläger. Ungewöhnlich. Das Gericht telefonierte darum zunächst beflissen hinterher. Denn man erinnerte sich an einen Fall, bei dem ein Staatsanwalt unterwegs einmal einen Schwächeanfall erlitten hatte. Das kann passieren. Doch die Kunde aus dem Linthgebiet im aktuellen Fall war ernüchternd. Dort hatte man den Termin vergessen. Sei irgendwie durch die Lappen gegangen.

Ankläger in Echtzeit «reingebeamt»

Coronagestählt bewies das Gericht jedoch in der Folge, dass sich mit etwas gutem Willen auch aussergewöhnliche Umstände anstandslos meistern lassen. In Windeseile organisierte der Gerichtsschreiber zunächst einen Laptop und verkabelte ihn hurtig. Sodann stellte er eine der mit der Homeoffice-Pflicht in Mode gekommenen Onlineverbindungen her und – schwupps – sass der Staatsanwalt im Raum. Jedenfalls virtuell. Der Gerichtspräsident hatte derweil bei der Verteidigerin und ihrem Mandanten geklärt, ob sie mit dieser spontanen Hilfslösung einverstanden wären. Ja, kein Problem, hiess es pragmatisch. Jedenfalls besser als unverrichteter Dinge nach Bern zurückfahren und in einem halben Jahr erneut bis ans Ende der Ostschweiz zu rollen. So kam es mit kaum zehn Minuten Verspätung zu der wohl ersten regionalen Gerichtsverhandlung im Onlineformat. Da in Gerichtssälen normalerweise keine Übertragungen erlaubt sind, war die Kamera ausschliesslich auf den Gerichtspräsidenten ausgerichtet, so dass die weiteren Beteiligten unerkannt blieben. Und der Staatsanwalt am anderen Ende sorgte, so steht zu vermuten, seinerseits dafür, dass in seinem Büro kein Familienmitglied durchs Video lief.

Kein Losrasen auf Grund von verletzter Ehre

In der Sache selbst hat sich der Angeklagte, wie schon zuvor, so auch an Schranken unschuldig gegeben. Er sei keineswegs auf den Kontrahenten losgerast, schon gar nicht aus verletzter Ehre, wie man ihm allein wegen seiner albanischen Wurzeln pauschal unterstelle. Er erklärte:
Die Kindsübergabe verlief völlig normal und störungsfrei.
Die Einvernahme eines Zeugen im Kosovo sei zudem wertlos und unter Umgehung der Einvernahmeregeln erfolgt, ergänzte seine Verteidigerin und forderte Freispruch. Die Anklage verwies hingegen auf die nicht ganz unbelastete Vergangenheit des Mannes, darunter verbale und tätliche Übergriffe. «Die hinterhältige Attacke von Sargans» passe da bestens ins Bild, von jemandem, der seine Emotionen nicht immer im Griff habe. Beim Gericht hielt das jedoch nicht stand. Es folgte ein umfänglicher Freispruch in Sachen Gefährdung des Lebens. Eine angebliche Beschimpfung wurde fallengelassen, sie war bereits verjährt.

Überirdische Reaktionszeit wäre nötig

Zum einen stünde Aussage gegen Aussage, so das Gericht, wobei keine der beiden Parteien glaubhafter sei als die andere. Dies zeige auch ihr epischer Zivilrechtsstreit, bei dem sich beide Seiten nichts schenkten. Zum anderen aber sei der vermeintliche Beinaheunfall, so wie ihn die Staatsanwaltschaft geschildert habe, rein physikalisch unmöglich. Man könne nicht mit Tempo 40 auf jemand zufahren und einen Meter vor dem Knall das Steuer rumreissen, wobei sich der Fussgänger just in diesem Moment mit einem Sprung hätte retten können. Rechnerisch müsste man dazu in genau neun Hundertstelsekunden wegspringen, rechnete das Gericht aus. Doch allein die blosse Reaktionszeit liege bekanntlich rund dreimal so hoch, von der nötigen Zeit zum Springen ganz zu schweigen. Also, ein Ding der Unmöglichkeit.