«Gedankenstrich: Demokratie in Gefahr?», Ausgabe vom 18. November
Toni Brunner kritisiert die «Bezahlmedien» – und nutzt dafür eine Plattform eines Bezahlmediums. Es fehle die Ausgewogenheit, es komme nicht jede Seite zu Wort, und es würde tendenziös berichtet, lauten die Vorwürfe. Die Folgen für unser Land und Volk sind entsprechend gravierend und werden wie folgt aufgelistet: «Hierzulande glaubte jeder(!), Harris werde knapp gewählt, jeder(!) weiss, dass Selenski ein Heilsbringer ist und die Nato unser einziger Schutzschild. … Die bewaffnete Neutralität wird nirgends(!) verteidigt, und der Bundesrat hat immer(!) recht.»
Offenbar lebt Toni Brunner in einem völlig anderen Land als ich. Schauen wir uns diese Vorwürfe etwas näher an. Dass in der Schweiz «jeder» glaubte, Kamala Harris würde gewählt, ist Unsinn. Und dass bei uns «jeder» glaubt, Selenski sei ein «Heilsbringer», ist ebenfalls Unsinn. Selenski hat das Pech, Präsident eines Landes zu sein, das vom Nachbarn überfallen wurde. Aber als Heilsbringer wird er kaum bezeichnet.
Die SVP verlangt von unserer Regierung Widerstand gegen die böse EU, welche uns einen unangenehmen Rahmenvertrag aufzwingen will. Sie hat aber offenbar etwas gegen Selenski, dessen Land nicht bloss gegen einen lästigen Rahmenvertrag, sondern gegen eine blutige «Spezialoperation» des Nachbarn kämpfen muss. Und dass die Nato unser Schutzschild ist, hat weniger mit Journalismus zu tun, sondern mit Geografie. Die Schweiz und Österreich sind von Nato-Staaten umgeben, was uns automatisch einen Schutzschild gibt, ob wir wollen oder nicht.
Dass der Grundsatz der bewaffneten Neutralität durch unsere Medien nicht verteidigt würde, ist ebenfalls Unsinn. Die notwendige Erhöhung der Militärausgaben in unserem Land ist aktuell ein Dauerthema und wohl mehrheitsfähig. Und mit der Neutralität ist es fast wie mit der Religion. Man kann Neutralität offen und vernünftig auslegen gemäss Völkerrecht, oder mit sturem Fanatismus. Sie wird auch aktuell nicht grundsätzlich infrage gestellt, aber verschieden interpretiert.
Schon als Jugendlicher hatte ich gelernt, dass die Schweizer Neutralität keine Gesinnungsneutralität sei. Böses, wie die seinerzeitige Niederschlagung des Ungarnaufstandes oder das gewaltsame Ende des Prager Frühlings, wurde damals auch in der Schweiz deutlich kritisiert, ohne dass man da neutral «beide Seiten» anhörte. Oh, und da bleibt noch der letzte fast belustigende Vorwurf, dass «der Bundesrat immer recht» hat gemäss Medien. Ernsthaft? Bundesräte werden doch laufend kritisiert, ob Cassis, Keller-Sutter oder Amherd. Und läuft da aktuell nicht eine recht heftige Pressekampagne gegen Albert Rösti, weil er allein für das Volksnein zum Autobahnbau persönlich verantwortlich gemacht wird? Zusammenfassend: Auch wir Leser von Bezahlmedien sind kritisch. Und wir glauben nicht einfach alles, was uns in deren Kolumnen aufgetischt wird.
Josef Dudli, Bogenstrasse 3, 9470 Werdenberg