Was kommt einem als Erstes in den Sinn, wenn man «Atomkraft» hört? Eine effiziente und sichere Form der Energiegewinnung? Vielleicht. Viel eher ist dieses Wort jedoch verbunden mit Unfällen, Katastrophen bis hin zum Super-GAU.
Mit den Orten Fukushima oder Tschernobyl, wo sich solche ereignet haben. Den wenigsten wird im Zusammenhang mit Kernenergie der Name einer Ortschaft im Kanton St.Gallen einfallen. Die Rede ist von der Gemeinde Rüthi, welche an die Region Werdenberg grenzt.
Bis so eines mal gebaut sei, könnte es schon zu spät sein. Jedoch sei er gegenüber nuklearen Technologien nicht mehr so verschlossen wie früher.
Den Vorschlag von FDP-Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher, bestehende Atomkraftwerke länger laufen zu lassen, um bei den erneuerbaren Energien aufzuholen, begrüsse er nämlich. Trotzdem seien für ihn Fotovoltaik und Wasserkraft die besten Mittel, um die Klimaziele zu erreichen und künftig die Energieversorgung sicherzustellen.
In kürzester Zeit formierte sich Widerstand
Wir schreiben das Jahr 1972. Nachdem die Pläne für ein thermisches Kraftwerk mit Erdöl an jenem Ort gescheitert waren, stellten die Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK), heute unter dem Namen Axpo bekannt, am 27. März ein neues Projekt vor. Die Entwürfe zeigen einen Kühlturm, der hinter Bauernhäusern in die Höhe ragt. Das «Ostschweizerische Tagblatt» titelte damals:NOK-Atomkraftwerk Rüthi bereits im Bewilligungsverfahren.Zu einer Zeit, in der die Antiatomkraftbewegung in ganz Europa an Stärke gewann, sollte nahe an der österreichischen Grenze ein neues Kernkraftwerk entstehen. So formierte sich innert kürzester Zeit Widerstand gegen das Projekt Rüthi. An der Spitze der Bewegung: Nationalrat Franz Jaeger.
Fast keine Interviews mehr
Der «ehemalige Revoluzzer», wie er sich selbst nennt, ist in die Jahre gekommen. Jaeger sitzt gemütlich am Tisch in seinem Garten. Seit er aufgehört hat, an der Universität St.Gallen zu unterrichten, gibt er fast keine Interviews mehr, sagt er. Und weiter:Früher stand ich mehrmals pro Jahr in der Arena. Heute wüsste ich nicht, ob ich einen ‹Shitstorm› noch ertragen würde.Trotzdem will er über sein Engagement gegen das Atomkraftwerk Rüthi sprechen.
«Keine Lösung für radioaktiven Abfall»
Die blauen Augen des 81-Jährigen leuchten, wenn er von einem seiner politischen Erfolge, dem Verhindern des geplanten St.Galler Atomkraftwerks, erzählt. Er sagt:Eine grünliberale Politik zu betreiben, war damals sehr mühsam.«Es gab zwar Unterstützung, doch mehrheitlich wurde man angegriffen.» Bei solch grossen Infrastrukturprojekten wie in Rüthi sei das anders gewesen. Die Bedenken waren zu gross; die Vorstellungen eines Unfalls ungeheuerlich. «Zum einen war da der radioaktive Abfall, für dessen Entsorgung es keine nachhaltige Lösung gab», sagt Jaeger. «Zum anderen war die Sicherheitstechnologie unzureichend. Es gab ein ständiges Risiko, dass etwas passiert.»
Er war einer der «jungen Wilden»
Er sei damals der jüngste Schweizer Nationalrat gewesen, als die NOK das Projekt 1972 vorstellte. Einer von den «jungen Wilden». Seine Partei war der Landesring der Unabhängigen (LdU). «Bei meiner Rede am Rorschacher Parteitag bin ich mit diesem Thema eingestiegen und sagte: ‹Wir können das nicht unterstützen!›» Zu dem Zeitpunkt seien noch nicht alle Parteigenossinnen und -genossen derselben Meinung gewesen. Der Widerstand gegen das AKW sei vor allem aus der Bevölkerung gekommen. «Das bescherte mir den Vorwurf, wir würden die Ängste der Menschen instrumentalisieren.» Dies und eine fehlende Kompromissbereitschaft seien ihm und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern lange vorgeworfen worden. Er sagt:Doch bei einem Projekt wie diesem ist ein Kompromiss nicht möglich.
Verein Atomkraftwerk Rüthi Nein wurde gegründet
Aufgrund des wachsenden Unmutes über dieses Projekt wurde am 26. Juni ein Verein ins Leben gerufen, der sich zum Ziel machte, das AKW Rüthi zu verhindern. In einem Artikel mit dem Titel «‹Verein Atomkraftwerk Rüthi Nein› wurde gegründet» berichtete auch das «Ostschweizer Tagblatt» über dieses Ereignis. 500 Personen besuchten die Gründungsveranstaltung. Zuoberst auf der Vorstandsliste: LdU-Nationalrat «Herr Dr. F. Jaeger».«Bereits Leitungen gebaut, die Strom transportieren sollten»
Es folgten Demonstrationen und Kundgebungen. «Das war ein so grosser Widerstand, wie ich ihn selten erlebt habe», sagt Jaeger. Die damalige Regierung hielt geschlossen dagegen. Sie unterstützte das Projekt weiterhin. «Es wurden bereits Leitungen gebaut, die später den Strom transportieren sollten», sagt Jaeger. Doch laut ihm war abzusehen, dass aus dem Projekt nichts würde: «Auch wenn das Rheintal eher konservativ geprägt war; für grüne Anliegen gab es auch dort Mehrheiten.» Jaeger ist sich heute sicher:Bei einer Volksabstimmung hätten wir garantiert gewonnen.
Vorarlberg wollte das AKW nicht
Nicht nur in der Schweiz formierte sich Widerstand: Dass an einem Standort so nah an der Grenze gebaut werden sollte, führte zu einem Konflikt mit Vorarlberg. Es zeigte sich: Rüthi war nicht nur ein Ostschweizer Problem. Bereits gegen das geplante Ölkraftwerk gab es in Österreich heftigsten Protest. Bei einer Grossdemonstration am 11. September 1965 in Feldkirch nahmen rund 25’000 Personen teil. Im Gegensatz dazu erscheint der Verein «AKW Rüthi Nein» mit 500 Mitgliedern ziemlich klein. Trotzdem war für Franz Jaeger der Schweizer Widerstand ausschlaggebend. «Ausländischer Druck kann in der Schweiz nicht viel ausrichten», sagt er. «Wir waren froh um die grosse Unterstützung rechts vom Rhein, aber wir hatten selbst hinreichend viele Sympathisanten.»Veteran mit Blick aufs Zeitgeschehen
Wenn Franz Jaeger über das AKW Rüthi spricht, kann er es nicht vermeiden, Vergleiche zur heutigen Situation zu ziehen. Diesen Mann, der für fast ein Vierteljahrhundert im Nationalrat sass, beschäftigt die Politik offensichtlich immer noch sehr. Der russische Überfall auf die Ukraine habe auch seine Sicht auf die Energiepolitik verändert. Er sagt:Ich dachte mein Leben lang, dass ich keinen Krieg mehr in Europa erleben muss.Wie so viele habe auch er sich getäuscht. Und jetzt steuere die Schweiz geradewegs auf eine Energieknappheit im Winter zu. Zur These, dass ein zusätzliches AKW wie in Rüthi die Schweiz vor einer solchen Krise schützen könnte, meint er:
Ich sage es heute und ich sagte es auch schon damals: Mit dem AKW Rüthi hätte man keine Energiekrise abwenden können.
Nicht mehr so verschlossen wie früher
Auch ohne das AKW Rüthi habe es in der Schweiz nie einen Notstand gegeben. Mit einem Krieg habe man damals nicht rechnen können. Die Energiepolitik müsse insgesamt nachhaltiger werden, sowohl bei der Versorgungssicherheit als auch beim Klimaschutz. «Mit neuen Atomkraftwerken werden diese Probleme in den nächsten Jahren wohl kaum verschwinden.»Geschafft: Das AKW kommt nicht
Der starke Widerstand aus der Bevölkerung veranlasste die NOK schliesslich im Jahr 1980 zum Stopp der Vorarbeiten für das Atomkraftwerk. Ob Jaeger heute noch stolz darauf ist?Ja. Ich freue mich darüber, was wir damals geschafft haben.Doch es sei oft ein mühseliger Prozess gewesen. «Der Kampf dauerte fast zehn Jahre lang und er hätte auch in eine Sackgasse führen können», sagt er. Für ihn selbst sei die Zeit nicht leicht gewesen. Persönliche Angriffe habe es oft gegeben.
Jaeger wundert sich heute noch über seine Gelassenheit
Zum Beispiel habe er böse Briefe erhalten. Hie und da sogar Todesdrohungen. Die Polizei ordnete für Jaeger Haus- und Personenschutz an. Trotzdem hätten seine Gegner es einmal geschafft, sein Haus zu verschmieren. «Ich wundere mich heute noch, wie ich damals so gelassen bleiben konnte», sagt er. Gelassen zu bleiben, sei aber wichtig gewesen:«Als Politiker braucht man manchmal Mut und Power, auch wenn es unangenehm und hart wird. Jammern bringt nie etwas.»Wie ging es weiter? - Für den Verein: Der Verein «Atomkraftwerk Rüthi Nein» existierte noch weiter bis ins Jahr 1993. Er setzte sich dafür ein, dass die Pläne für ein AKW Rüthi nicht mehr aufgenommen werden. Weiter kämpfte er für ein schweizweites Moratorium für Atomkraftwerke, das schliesslich mit einer entsprechenden Initiative am 23. September 1990 vom Volk gutgeheissen wurde. - Für Franz Jaeger: 1985 wurde er Präsident des LdU und blieb dies bis 1992. Sein politischer Höhepunkt wäre die Wahl zum Nationalratspräsident im Jahr 1993 gewesen, die er aber verlor. «Ich bin mir sicher, dass meine unbequem grüne Politik mit ein Grund dafür war», sagt er heute. 1995 trat er schliesslich aus dem Nationalrat zurück und begann seine Karriere als Wirtschaftsprofessor an der Universität St.Gallen. «Nachträglich bin ich jedem dankbar, der damals gegen mich gestimmt hat», sagt Jaeger. «So konnte ich endlich meinen Traumberuf voll wahrnehmen.» (hol)