Sie habe Glück mit ihren Kindern, sagt Ivana G. Sie seien nicht verwöhnt und hätten Verständnis für die Situation der alleinerziehenden Mutter. Trotzdem tue es weh, dass ihre Tochter diesen Winter vielleicht nicht Snowboardfahren könne. Sie braucht einen neuen Skianzug, aus dem alten ist sie herausgewachsen. «Aber unter 200 Franken ist es unmöglich, einen zu finden.»
Letztes Jahr habe Ivana G. bei sich selbst etwas zurückgesteckt, so habe es für die Saisonkarte der Tochter gereicht. Doch dieses Jahr gebe es nichts mehr zu sparen.
Beim RAV könne sie manchmal temporär arbeiten, um ihr Einkommen aufzubessern, aber leider nicht immer. So stünden ihr je nach Monat zwischen 1500 und 3000 Franken zur Verfügung. Dazu kämen 450 Franken Alimente von ihrem Ex-Mann. Mit Miete und Krankenkasse für sich und ihre beiden Kinder sei sie bereits bei Fixkosten von fast 2000 Franken. Dann fehlten aber noch Essen, Strom, Kleidung und Telefonrechnungen für drei Personen. So müsse sie immer genau rechnen, wo jeder Rappen hinfliesse.
Meine Tochter sagt, sie sei zufrieden, aber ich bin trotzdem wütend auf mich selbst. Ich will meinen Kindern nicht die Hobbys nehmen.Die 40-jährige Ivana G., ihre 15-jährige Tochter und ihr 18-jähriger Sohn wohnen in Bad Ragaz und gehören zu den etwa 25’000 von Armut betroffenen Menschen im Kanton St.Gallen. Das sind 4,9 Prozent der Bevölkerung. Bei Haushalten mit Personen im Erwerbsalter sind es sogar 5,9 Prozent, während die Armutsquote von Rentenhaushalten bei 2,4 Prozent liegt. Weitere 75’000 Menschen leben an der Armutsgrenze. Die Daten der kantonalen Fachstelle für Statistik stammen von 2017, weswegen im Vergleich zu heute leichte Abweichungen möglich sind. Doch gemäss der Fachstelle dürfte sich die Situation nicht wesentlich verändert haben. Will heissen, dass derzeit etwa jeder zwanzigste Haushalt im Kanton St.Gallen unter der Armutsgrenze lebt. Die Armutsgrenze ist das von der St.Gallischen Konferenz für Sozialhilfe definierte soziale Existenzminimum, an dem sich die Gemeinden bei der Gewährung der Sozialhilfe orientieren. Dieses Minimum liegt für eine Einzelperson bei 997 Franken pro Monat, nach Abzug von Krankenkasse und Mietkosten. Für einen Dreipersonenhaushalt sind es 1854 Franken, für vier Personen 2134 Franken. Ab Januar 2023 werden die Beträge monatlich um 9 bis 19 Franken erhöht. Allerdings dürfte das für die meisten, die unter der Armutsgrenze leben, kaum eine bedeutende Erleichterung bringen.
Essen oder Strom bezahlen?
Lorenz Bertsch befürchtet, dass es die Menschen, die ohnehin schon an oder unter der Armutsgrenze leben, bald weitaus schwieriger haben werden. Die geopolitische Lage und deren Auswirkungen auf die Energiepreise treffen sie besonders hart. Schon bald würden viele von ihnen vor der Entscheidung stehen:Soll ich mit dem restlichen Monatsgeld Essen einkaufen oder die Stromrechnung bezahlen?Bertsch ist Bereichsleiter Sozial- und Schuldenberatung bei der Caritas St.Gallen-Appenzell und sieht zu, wie die Anfragen von Menschen in Geldnot bei seiner Geschäftsstelle in Sargans seit einigen Wochen stetig steigen. Derzeit liege die Steigerung bei etwa 20 Prozent im Vergleich zum Sommer, schätzt Bertsch, doch er rechnet mit einer bedeutenden Zunahme im neuen Jahr:
Ich habe Angst, dass wir im Frühling untergehen werden.Im Frühling werde sich die Kumulation der stark gestiegenen Mietnebenkosten, Stromkosten und Krankenkassenprämien in den Budgets der Armutsbetroffenen niederschlagen. Im Tieflohnsegment, sprich bei den Working Poor – also Haushalte, die trotz eines Lohneinkommens an der Armutsgrenze leben, weil dieses nicht ausreicht –, sei die Situation besonders besorgniserregend. Bertsch erzählt von Familien, die sich mit Briefen von ihrer Verwaltung an ihn wenden, in denen ein Anstieg der Nebenkosten im nächsten Jahr um das Zwei- bis Dreifache angekündigt wird. Zähle man noch erhöhte Benzinkosten, Lebensmittel- und Strompreise dazu, bezifferten sich die gesamten Mehrkosten je nach Fall auf 300 bis 500 Franken pro Monat. «Das sprengt für eine Working-Poor-Familie den Rahmen, und so besteht Gefahr, dass sich eine grosse Zahl von ihnen verschuldet.»
Regierung will die Situation beobachten
Die SP St.Gallen hat im September einen Vorstoss eingereicht. Sie wollte von der Regierung wissen, wie diese sich zur «zeitlich befristeten Ausrichtung von Unterstützungsbeiträgen an bedürftige Einzelpersonen und Familien» stelle, die aufgrund der steigenden Preise die Lebensunterhaltungskosten nicht mehr decken können. In ihrer Antwort vom 8. November schreibt die Regierung, sie sei sich der Herausforderungen der gestiegenen Lebenshaltungskosten, gerade für Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen, bewusst. Mit Blick auf die Sozialhilfe-Beziehenden seien mittlerweile gewisse Anpassungen absehbar. Für Personen, deren Einkommen sich knapp über den Grenzen des Sozialhilfe- beziehungsweise Ergänzungsleistungsbezugs befänden, sei die Situation noch «ungeklärt». Doch auf Bundesebene liefen bereits «verschiedene Bemühungen», um diese Personen zu unterstützen. Die Regierung erachte es daher «nicht als zielführend», diesen laufenden Arbeiten auf Bundesebene vorzugreifen. Daher werde man die Situation beobachten und bei Bedarf «pragmatische Lösungen» prüfen. Derweil erklärt Ivana G.:Am meisten spare ich beim Essen.Vor vier Monaten verlor sie ihren Job bei einem Coop Pronto in Chur, weil der Besitzer wechselte. Seither gebe es zu Hause kein Fleisch mehr, dafür viel Brot. Gemüse kaufe sie nur noch, wenn es in Aktion sei. Sie sagt, sie habe zugenommen, weil sie fast nur noch Nudeln, Reis und Kartoffeln esse, «aber frisches Gemüse ist teuer». Früher habe ihr der Chef erlaubt, die kürzlich abgelaufenen Lebensmittel vom Coop Pronto nach Hause mitzunehmen, doch auch das falle nun weg.
Mit 2300 Franken Einkommen kann ich gerade noch leben, aber nicht mit 2000.
Nur noch Verträge auf Stundenbasis
Ist sie auch kaum sichtbar, ist Armut in der Schweiz nichts Neues. Lorenz Bertsch von der Caritas sagt, die Löhne seien im Tieflohnsegment in den letzten 20 Jahren stagniert. Demgegenüber sei das Wohnen massiv teurer geworden, und die Krankenkassenprämien seien im Durchschnitt um das Dreifache gestiegen. Working-Poor-Familien hätten somit schon seit Jahren immer weniger Geld für den Lebensbedarf zur Verfügung und müssten für Miete, Krankenkasse und anfallende Gesundheitskosten jetzt schon zwischen 50 und 60 Prozent ihres Lohnes aufwenden. Teil des Problems sei, dass immer mehr Firmen, zum Beispiel im Detailhandel oder im Reinigungssektor, keine Verträge mit Fixpensum mehr abschliessen würden, sondern nur noch auf Abruf und Stundenbasis gearbeitet werden könne, sagt Bertsch. So sei es der Arbeitnehmerin oder dem Arbeitnehmer nicht möglich, einen zweiten Job anzunehmen, da sie oder er stets auf Abruf bereitstehen müsse.Ist die Person nicht flexibel genug, droht die Kündigung.Die durch die geopolitischen Gegebenheiten verursachte zusätzliche Teuerung der Lebenskosten treffe mit voller Wucht jene Menschen, die arbeiten, aber am Existenzminimum lebten und kein soziales Auffangnetz hätten. «Diejenigen, die jetzt schon am Limit laufen, sparsam leben und trotzdem jeden Monat darum bangen, ob das vorhandene Geld für den Einkauf reicht.» Dieses Problem müsse seitens der Politik ernst genommen werden, betont Bertsch. Es gelte, dringend Lösungen zu suchen, wie man das Budget der Working Poor über die nächsten Monate abfedern könne, sei es über weitere Prämienverbilligungen oder andere Instrumente.
Sonst werden die sozialpolitischen Folgen verheerend sein.Während die Löhne im Tieflohnsegment seit über 20 Jahren stagnieren und somit faktisch immer weniger Geld für den Lebensunterhalt vorhanden ist, konzentriert sich das Vermögen zunehmend in den obersten Schichten. Gehörten 2009 noch 31,2 Prozent des Gesamtvermögens des Kantons St.Gallen dem reichsten Prozent der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter, waren es 2020 bereits 36,2 Prozent. Die obersten fünf Prozent besitzen heute 58,9 Prozent des Vermögens, das oberste Viertel 89,6 Prozent. Gleichzeitig hält das unterste Viertel der Bevölkerung im Erwerbsalter 0,1 Prozent des Gesamtvermögens im Kanton. Bei den untersten 10 Prozent ist gar kein Vermögen mehr vorhanden. So, wie bei Ivana G., die während eines Telefonats mit einem fremden Journalisten zu weinen beginnt, weil sie nicht weiss, wie sie die letzte Rechnung für die Zahnspange ihrer Tochter zahlen soll.