Die Kleidung ist voller Blut und Schmutz - trotzdem heisst es: «Tierärztin sein, ist eine Erfüllung» | W&O

07.03.2022

Die Kleidung ist voller Blut und Schmutz - trotzdem heisst es: «Tierärztin sein, ist eine Erfüllung»

Wer im Obertoggenburg als Tierarzt arbeitet, braucht zwei Dinge: Ein Handy und ein Auto. Eine Reportage.

Von Ruedi Roth
aktualisiert am 28.02.2023
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Es ist sieben Uhr morgens im Büro der Grosstierärzte Obertoggenburg in Nesslau. Flavia Tischhauser, Tiermedizinische Praxisassistentin, nimmt Anrufe entgegen. Sie notiert das jeweilige Anliegen der Tierbesitzer. Logistisch werden die Fälle in die Auftragsliste der diensthabenden Tierärzte eingetragen. Diese trudeln ab halb acht Uhr in der Praxis ein. Tierärztin Sari Eichenberger erzählt beim Morgenkaffee von ihren Erlebnissen während des vergan­genen Nachtdiensts. Hauptsächlich geht es um eine Ziegengeburt, die aussergewöhnlich abgelaufen ist. Interessiert hören die Anwesenden zu. Ein kurzes Nachfragen, dann geht es los auf die Vormittagstour.

Ein freundschaftliches Klima innerhalb des Teams

Die Tierärztin Julie Canal steigt in das Praxisauto. Die Liste ihrer Besuche führt sie hinauf ins obere Toggenburg. Die Fahrt hat kaum begonnen, da klingelt schon das Telefon.
Ja, kann ich machen. Danke Flavia und tschüss!
Es werden keine langen Sätze ausgetauscht unter­einander. Aber dass im Team der Grosstierärzte Obertoggenburg ein sehr freundschaftliches Klima herrscht, ist gut zu spüren. Seit fünf Jahren arbeitet Julie Canal dort. Zwei Tage pro Woche. Das passe ihr, erklärt sie auf der Fahrt von Nesslau zu Landwirt Paul Bischof in Alt St. Johann. Ein routiniertes Einparken vor der Stalltür, Grüezi sagen per Du und hinein in den Stall zum Patienten. In groben Zügen weiss Julie ja schon aus dem Telefonat, was bei diesem Mutterkuhkalb nicht stimmt. Es scheint aber schlimmer zu sein als angenommen. Kraftlosigkeit, schwankender Gang und nervöse Bewegungen der Pupillen sind erste Beobachtungen der Tierärztin.

Grösserer Aufwand als geplant

Fieber habe das Kalb nicht und sein Atem funktioniere nicht aussergewöhnlich, berichtet ihr der Tierhalter. Für Julie Canal ist es klar: Das Kalb leidet an einer Listeriose, einer Infektion, die durch Bakterien hervorgerufen wird. Die Tierärztin verabreicht dem Tier Schmerzmittel und Antibiotika. Dann muss das Kalb mit einer Fünfliter-Infusion rehydriert werden.
 Mirjam Scherrer untersucht mittels Ultraschall die Trächtigkeit, Flavia Tischhauser notiert die Ergebnisse.
Mirjam Scherrer untersucht mittels Ultraschall die Trächtigkeit, Flavia Tischhauser notiert die Ergebnisse.
Ganz einfach ist dies nicht zu hand­haben. Denn die Mutterkuh steht in der Nähe und das Kalb muss für die Behandlung zweckmässig eingesperrt werden. Der Landwirt hat bald eine Lösung gefunden, und nach zehn Minuten kann die mehrere Stunden dauernde Infusion beginnen. Einige Informationen an den Landwirt bezüglich der Infusionskontrolle und einem Zusatzbesuch, Hände und Stiefel waschen, Adieu sagen und weiter geht’s.
Diese Aufgabe hat länger gedauert als geplant. Am nächsten Ort sollte ich auf Wunsch vor neun Uhr aufkreuzen. Das wird knapp.

Persönlicher Kontakt zu den Tierhaltern

Der Kontakt zu den Tierhaltern soll persönlich und möglichst bedarfsgerecht sein, erzählt Julie Canal. Sie meldet sich zehn Minuten vor dem Besuch meistens telefonisch noch schnell an. So sparen beide Seiten Zeit. Sie sagt:
Autofahren, gekoppelt mit Telefongesprächen, gehören einfach zum Tagesablauf eines Tierarztes.
Beides geschieht routiniert bei Julie Canal. Beim nächsten Landwirt muss sie wieder ein Kalb behandeln. Akuter Durchfall und damit beginnende Austrocknung des Körpers sind die Symptome. Die Tierärztin verabreicht auch bei diesem Tier eine Infusion. Eine kurze Beratung, eine Medizinabgabe – und Julie Canal verabschiedet sich wieder. Auf zum nächsten Halt im Dorf Wildhaus. Dort befindet sich ein Holzkästchen, in welches Julie Canal Medikamente deponiert. Die Landwirte der Umgebung können diese auf Bestellung ohne grossen Zeitaufwand abholen. Jetzt führt die Fahrt zum Landwirt Thomas Bohl in Stein. Dort muss die Tierärztin einigen Kühen Blut entnehmen. Das ist eine vorbeugende Massnahme gegen die BVD, die Bovine Virus Diarrhoe. Diese Krankheit ist in der Schweiz noch nicht gänzlich ausgerottet und soll auf diese Weise in Schach gehalten werden.

Die Tierärztinnen begleiten und betreuen die Betriebe

Unter Bestandesbetreuung versteht man eine enge Zusammenarbeit zwischen Landwirt und Tierarzt. Der Bauernhof wird regelmässig von einem Tierarzt besucht. Mittels Daten aus den Milchproben der Kühe kann ein eventuelles Bestan­desproblem so schneller erkannt und behoben werden. «Diese Dienstleistung bieten wir schon seit einigen Jahren an. Und die involvierten Betriebe schätzen eine solche Betreuung sehr», gibt Mirjam Scherrer Auskunft. Sie ist die Geschäftsführerin der Grosstierärzte Toggenburg. Heute stehen einige solcher Besuche an, Mirjam Scherrer wird dabei von Flavia Tisch­hauser, der tiermedizinischen Praxisassistentin, begleitet. Zu zweit können sie die Aufgaben auf den Betrieben von Peter Frei und Ruedi Steiner in Wildhaus rascher erledigen. Mittels Ultraschall werden dabei Trächtigkeitsuntersuchungen bei Kühen und Rindern gemacht.
 Julie Canal deponiert die bestellten Medikamente im Depot.
Julie Canal deponiert die bestellten Medikamente im Depot.
Nicht alle Tiere sind dort wie gewünscht trächtig. Also erörtert Mirjam Scherrer zusammen mit den Tierbetreuenden mögliche Verbesserungen. Sie diskutieren ausserdem über verschiedene Vorbeugungen gegen Wurm­befall bei Jungtieren. Das Gespräch geschieht in lockerer Atmosphäre. Es zeigt die enge Zusammenarbeit zwischen Tier­arzt und Landwirt. «Das ist ein sehr wichtiger Faktor, um im Stall Erfolg zu haben», stellt Mirjam Scherrer klar.

Umkehren auf der Heimfahrt: Ein Notfall

Bald ist Mittag und Mirjam Scherrer macht sich auf die Rückfahrt zur Praxis, dann klingelt das Telefon. Die Tierärztin muss umkehren und sofort zu Bernhard Wenk in Wildhaus fahren. Bei ihm steht eine Kuh im Klauenstand. Er wollte ihr ein Leiden am linken Hinterfuss mildern. «Aber nach wenigen Schnitten mit dem Klauenmesser sah ich, dass hier ein grösseres Problem vorliegt. Und dass hier eine Linderung wohl nur mit fachlicher Behandlung möglich ist.» Mirjam Scherrer macht sich an die Arbeit. Die Wunde blutet stark, also unterbindet sie die Blutzufuhr. Die Tierärztin muss die Klauensubstanz umfassend entfernen, denn die Ablösung von Horn und Fleisch ist schon zu weit fortgeschritten. Der Tierhalter beobachtet die Arbeit der Tierärztin genau. Bernhard Wenk meint:
Wenn ich Mirjam Scherrer nicht vertrauen würde, hätte ich wohl Einhalt geboten bei diesem massiven Zurückschneiden der Klaue.
Dank viel Routine und der Verabreichung einer lokalen Be­täubung kann Mirjam Scherrer die Kuh erfolgreich operieren. Zum Schluss legt sie dem Tier einen festen Verband an.
Da werden wir bald wieder vorbeischauen, Beni. Aber das kommt schon gut.
Die Operation hat eine Dreiviertelstunde gedauert. Es war kalt an diesem schattigen, vereisten Platz. Die Kleidung ist voller Blut und Schmutz, doch Mirjam Scherrer strahlt wie zuvor. Es ist die pure Leidenschaft für diesen Beruf.

Freude am Beruf ist der Schlüssel zum Erfolg

Zwölf Uhr ist schon lange vorbei, aber das spielt keine Rolle. Hauptsache, dass sie die nötige Hilfe bieten konnte. Für Mirjam Scherrer ist es eine Erfüllung, Tierärztin zu sein.
Das ist aber bei allen meiner Mitarbeitenden so. Sonst passt es ja auch nicht, um Erfolg zu haben.
Die gebürtige Bündnerin arbeitet schon seit vielen Jahren im Toggenburg. Als Geschäftsführerin von Grosstierärzte Toggenburg legt sie neben grossem Fachwissen auch Wert auf passende Charaktere in ihrem Team. Man soll die Freude am Beruf angenehm miteinander erleben können, sagt sie. Und dann: «So, und jetzt geht es ans Mittagessen.»