Eine 24-jährige Rheintalerin studiert in Oxford und hat ein grosses Ziel | W&O

20.01.2023

Eine 24-jährige Rheintalerin studiert in Oxford und hat ein grosses Ziel

Jährlich wollen zahlreiche junge Menschen ein Studium an der besten Universität der Welt beginnen. Nur wenige erhalten einen Studienplatz – Anja Segmüller aus Lüchingen ist es geglückt. Jetzt hat sie ein grosses Ziel vor Augen.

Von Max Pflüger
aktualisiert am 28.02.2023
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Die Universität von Oxford wurde im letzten Oktober im weltweiten Universitätsranking des Magazins «Times Higher Education» zum siebten Mal in Folge zur besten Universität der Welt gekürt. Entsprechend gross ist das Interesse an einem Studienplatz. Jährlich bewerben sich für rund 3000 Plätze über 25'000 Anwärterinnen und Anwärter. In einem aufwendigen und strengen Auswahlprozess wählen die zuständigen Schulleitungen die Besten aus. Im aufgenommenen Achtel dabei war auch eine Rheintalerin, Anja Segmüller aus Lüchingen.

Akademische statt kreative Ausbildung gewählt

Anja kam 1999 als einziges Kind von Erika und Gregor Segmüller zur Welt. In Lüchingen wuchs sie auf dem elterlichen Gemüsebaubetrieb auf. Sie war aktiv im STV Lüchingen und im Blauring, spielte Gitarre und nahm Gesangsunterricht. In Altstätten besuchte sie die Talentschule für Gestalten im Schulhaus Wiesental, sie begeisterte sich schon früh für Kunst. Entgegen der Empfehlung ihres Seklehrers erlernte sie keinen kreativen Beruf, sondern besuchte die Kantonsschule in Heerbrugg – allerdings mit dem Schwerpunkt Gestaltung. Die Wende kam im zweiten Kanti-Jahr durch einen Schulaustausch nach England in die «Adcote School for Girls» in Shrewsbury, eine weiterführende Internatsschule, etwa 60 Kilometer von Birmingham entfernt. Das Internat ist weitab von der Zivilisation gelegen, und Anja Segmüller hatte viel Zeit zum Lesen und Studieren. Sie sagt:
Dort habe ich nicht nur mein Englisch stark verbessert, sondern entdeckte auch meine Leidenschaft fürs Lernen, vor allem für die ‹Humanities›, für Philosophie, Geschichte, Politik und Soziologie.
Nach der Matura zog es die Rheintalerin recht schnell wieder nach England, wo sie zunächst in einem Museum, an einer Sprachschule, in einem Wein- und Kaffeelokal sowie in einer der schönsten Bibliotheken arbeitete, im Christ Church College, dessen historische Gebäude etwa Kulissen des Harry-
Potter-Films bildeten. Ausserdem studierte sie in Teilzeit und bereitete sich auf ein Zer­tifikat in Philosophie und Geschichte vor. Das Ziel von Anja Segmüller war jedoch vor allem, sich auf den Bewerbungsprozess für ein Vollzeitstudium an der Universität von Oxford vorzubereiten. Der Bewerbungsprozess dauert sehr lange und erfordert viel Zeit und grosses Engagement.

Langer und strenger Bewerbungsprozess

Anja Segmüller musste einen Bewerbungsbrief schreiben und darin ihr Wissen und die geforderten Eigenschaften und Voraussetzungen sowie ihre Leidenschaft fürs Studienfach darlegen, für seine Themen und Inhalte. Dann brauchte sie Referenzen und musste ein Essay zu einem fachbezogenen Thema einreichen. Anja Segmüller schrieb eine grössere Arbeit über spanischen Bürgerkrieg. Dann folgte eine Aufnahmeprüfung. Als sie die erste Runde überstanden hatte, musste sie nach Oxford reisen. Dort wurde sie von Professorinnen und Professoren des Colleges, an dem sie sich beworben hatte, zu Interviews erwartet. In jeder Interviewrunde sass sie bis zu drei Professoren gegenüber, die Fragen zum gewählten Fach stellten und das Denkvermögen der Bewerberin generell testeten. «Für meine Interviews musste ich ein Dokument aus dem 19. Jahrhundert zu Sozialreformen in England analysieren, eine Engelsfigur in einem Gemälde von König Heinrich V. diskutieren und mein eingereichtes Essay zum Spanischen Bürgerkrieg zwischen 1936 bis 1939 sowie die Rolle der Sowjetunion und des nationalsozialistischen Deutschlands kritisch hinterfragen. Dann musste ich verschiedene Fragen zur Geschichtsphilosophie beantworten», berichtet Anja Segmüller. Sie reüssierte, und im Herbst 2021 erfüllte sich der lange gehegte Wunsch: Anja Segmüller durfte ein Studium am Harris Manchester College beginnen. Die Universität Oxford ist anders strukturiert als Schweizer Universitäten. Sie besteht aus mehr als 30 weltlich geführten Colleges und konfessionell geleiteten «Permanent Privat Halls» (Studentengemeinschaften). Die Studierenden sind immer zuerst Mitglieder in einem College und erst an zweiter Stelle Studierende der Universität. Nur die Prüfungen sind zentral organisiert, alles andere wie Unterricht und Unterkunft ist Sache der einzelnen Colleges. Das macht das System ziemlich kompliziert. Aber es ist auch viel persönlicher, weil man sich in kleineren Gruppen und Institutionen innerhalb des Uni­versitätskomplexes orientieren kann», sagt Anja Segmüller.

Studentenleben: «Im College ist immer was los»

Zu Beginn ihres Studiums lebte Anja Segmüller im College. «Das College ist ein sehr wichtiger und zentraler Teil des Oxforder Studentenlebens», sagt sie.
Im College findet eigentlich alles statt: Es gibt hier eine Kirche, eine Bibliothek, Unterkünfte, Klassenzimmer, Aufenthaltsräume usw.
Im College zu wohnen, hat ihr sehr gefallen – es war auch eine intensive Erfahrung mit den Traditionen und Events, die dort täglich gelebt und angeboten werden. Weil viele Studentinnen und Studenten im College wohnen, ist immer etwas los. Inzwischen wohnt Anja Segmüller in einer Wohngemeinschaft zusammen mit drei Mitstudierenden. Sie führt als Studentin ein interessantes Leben. Anders als an unseren Universitäten wird nicht schwergewichtig in Vorlesungen unterrichtet. Die Studierenden erarbeiten sich in Oxford ihr Wissen primär durch selbstständiges Arbeiten, zu dem sie von den Professorinnen und Professoren in den «Tutorials» angeleitet werden. Die Studierenden werden auf diese Weise früh an wissenschaftliches Arbeiten herangeführt. Anja Segmüller arbeitet in erster Linie in den grossen Bibliotheken der Universität sowie am Computer zu Hause oder im College und schreibt Aufsätze und Essays. Viel Zeit bleibt auch für andere Arbeitsformen und Erfahrungen.

Berufswunsch: Kuratorin an einem Museum

Anja Segmüller hat ein grosses Ziel vor Augen. Sie sieht ihre Zukunft als Kuratorin an einem der grossen Museen. Sie möchte mit ihrer beruflichen Tätigkeit historisches und kunsthistorisches Wissen vermitteln. Schon heute ist Anja Segmüller in einer Studentengruppe tätig, die Stadtführungen veranstaltet, und zudem durch Veröffentlichungen Wissen zur Kolonialgeschichte, zum imperialen Erbe und zu den Diskriminierungen in der Geschichte Oxford und der «Elite-Universität» untersucht und verbreitet. Die Gruppe arbeitet eng mit der Universität und den Universitätsmuseen zusammen. Über die Weihnachtsferien hat Anja Segmüller auch in einem Kunstmuseum in London gearbeitet und dort die Geschichte der weiblichen und unterrepräsentierten Künstlerinnen in der Galerie für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht. Sie hofft, solche Arbeiten nach dem Studium in grossen Museen wie dem Londoner Victoria & Albert Museum weiterführen zu können. Damit hat Anja Segmüller ihre Neigungen und ihr Interesse an Geschichte, Kunst und sozialen Fragen mit ihrem Studium sowie ihren Berufszielen in Einklang gebracht.